LEICHNAME FÜR DIE WISSENSCHAFT

Anatomische Anstalt München




Abschiedsbrief von Helene Delacher (1904 - 1943) | Credit: Verein Lila Winkel
Portrait von Helene Delacher | Credit: Verein Lila Wink

„Mein liebster Luis!

Endlich komme ich dazu, dir ein paar Zeilen (zu schreiben) und hoffe und wünsche dich mit diesem Brief in bester Gesundheit anzutreffen. Mein liebster Luis, aber leider keine gute Botschaft. Mein liebster Luis, muss dir leider mitteilen, dass heute abend um 5 Uhr das Urteil vollstreckt wird. Aber erschreck nicht mein Liebster. Ich werde (durch) meinen Glauben überwinden. Es hat halt so sein wollen, das (es) so kommt. Ist halt doch besser dem Herrn treu bleiben. Also mein liebster Luis, bleib mir treu für Gottes Königreich, der Herr wird dir schon auch die Kraft und Stärke geben. Also die Sachen von mir gehören dir, aber behalt alles noch ein Jahr, gelt.

Also jetzt muss ich lei glei mein Schreiben schliessen. Mit vielen herzlichsten Grüssen und Küssen von Deiner dich liebenden Lene; die Stunde kommt jetzt, der Herr mit dir mein Luis, bleibe brav dem Herrn, ich werde recht bald kommen.“


Helene Delacher


Helene Delacher (1904-1943), war eine österreichische Zeugin Jehovas, die wegen des Mitführens der Zeitschrift Der Wachturm sowie ihrer Glaubenszugehörigkeit von den Nationalsozialisten inhaftiert und hingerichtet wurde. Zu lesen ist ihr Abschiedsbrief vom 12.11.1943 aus dem Gefängnis Berlin-Plötzensee an ihren Verlobten Alois Hochrainer. Helene wurde am selben Tag um 17 Uhr enthauptet. Ihr Leichnam wurde dann dem Anatomischen Institut Berlin übergeben, dessen Direktor Hermann Stieve (1886-1952) den Einfluss von Stress auf den Menstruationszyklus erforschte. Die daraus gewonnenen anatomischen Präparate wurden am 13. Mai 2019 nach dem späten Auffinden von Stieves Nachlass in Berlin bestattet.1

Um 1933 lebten schätzungsweise 30.000 Zeug*innen Jehovas in der Weimarer Republik. Etwa die Hälfte von ihnen wurde im Laufe der NS-Diktatur verfolgt oder inhaftiert, 1.490 Zeug*innen Jehovas wurden nachweißlich ermordet. Diskriminiert wurden Zeug*innen Jehovas vor allem wegen ihrer Ablehnung des Hitler-Grußes und Verweigerung des Kriegsdienst.2 Da die historischen Forschungsarbeiten noch anhalten, werden die Opferzahlen weiterhin nach oben korrigiert. Die Zeug*innen Jehovas waren die erste Glaubensgemeinschaft, die durch die Nationalsozialisten verboten und verfolgt wurde. Zudem erhielten sie im Gegensatz zu anderen christlichen Regimegegner*innen ein Art Sonderstellung in den Arbeits- und Konzentrationslagern, indem sie ein eigenes Abzeichen tragen mussten. Durch eine Willenserklärung, in der sie ihrem Glauben abschworen, waren sie die einzigen Insassen der KZs, die dieses verlassen konnten. Zudem stellten zeitweise Zeuginnen Jehovas den größten Anteil der Frauen-KZs. Entrechtet wurden diese Frauen zum Teil auch durch einen staatlichen Sorgerechtsentzug, geschätzt werden fast 1.000 Fälle. Bis heute erleben Zeug*innen Jehovas laut Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International wegen der Ausübung ihres Glaubens in verschiedenen Ländern Angriffe und Verfolgung.3


Eingang zur Anatomischen Anstalt in der Pettenkoferstraße 11 | Credit: Eigenaufnahme



Leichname für die Forschung


In der Anatomischen Anstalt Münchens wurden unter der Leitung des Professors für Anatomie Max Clara (1899-1966) zwischen 1942 und 1945 die Körper von im Gefängnis München-Stadelheim hingerichteten Häftlingen für Präparierkurse und zu Forschungszwecken verwendet.4 Während die Leichname von Hingerichteten die historisch erste legale Quelle für anatomische Forschungszwecke darstellen, wurden bis Anfang des 20. Jahrhunderts auch die Körper von marginalisierten und diskriminierten Gruppen (Suizidopfer, verstorbene Gefangene, etc.) aufgrund von entsprechenden Gesetzen an die Anatomien geliefert. Um die Leichname Hingerichteter gab es bis in die 1930er Jahre einen regelrechten Wettbewerb unter den Universitäten.5 Zwischen 1933 und 1945 änderte sich die Leichenbeschaffung der deutschen Anatomien jedoch dramatisch und die zentralen Hinrichtungsstätten des NS-Regimes wurden zur Hauptquelle für anatomische Lehre und Forschung. Für die Münchner Anatomie lässt sich für die Beschaffung der Körper von NS-Opfern aus zeitgenössischen wissenschaftlichen Publikationen erahnen, dass eine große Anzahl von hingerichteten Häftlingen für die Forschung während des Zweiten Weltkriegs verwendet wurde. Dieses nur indirekte Wissen resultiert aus dem Verschwinden der meisten Münchner Leichenjournale - von denen nur Fragmente im Anatomischen Institut aufgefunden werden konnten und die kleine Teile der Körperbeschaffung zwischen 1933 und 1941 umfassen. Meist handelte es sich um Verstorbene aus den Münchner Krankenhäusern, aber auch die Nennung von zwei Häftlingen, deren Leichen von der zentralen Hinrichtungsstätte im Gefängnis Stadelheim 1937 geliefert wurden, ist darin aufgeführt.6


Gefängnis Stadelheim um 1945 | Credit: Bayerische Staatsbibliothek



Hinrichtungen in Giesing


Die Justizvollzugsanstalt München in der Stadelheimer Straße 12 im Münchner Stadtteil Giesing wurde Ende des 19. Jahrhunderts bezogen und gehörte zu den größten Justizvollzugsanstalten im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Sie diente bereits vor der NS-Herrschaft als Haftanstalt für politische Gegner*innen, zum Beispiel nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik im Mai 1919. Mit der Machtübernahme der NSDAP wurden die Aufnahmekapazitäten der Haftanstalt schnell überstiegen. Die als politische Gegner*innen des Regimes deklarierten Schutzhäftlinge warteten in Stadelheim auf ihre Strafe. Schon sehr früh spielte die NS-Justiz eine wichtige Rolle im Terrorapparat der Diktatur und diese verfolgte in aller Regel ein sehr hartes Vorgehen gegenüber politisch Andersdenkenden. Stadelheim diente dabei allen bayerischen und auch einigen außerbayerischen Gerichtsbezirken als zentraler Hinrichtungsort. So wurden während der NS-Diktatur in Stadelheim über 1.100 Gefangene hingerichtet, ab 1936 in aller Regel mittels Guillotine. Der Großteil der Hinrichtungen wurde zwischen 1933 und 1945 ausgeführt. Unter den Getöteten dieser Zeit waren unter anderem Ernst Röhm und die Mitglieder der Weißen Rose, Hans und Sophie Scholl. Darüber hinaus lieferte die Gefängnisleitung 1943, nach einer Vereinbarung zwischen Justizminister Thierack und Heinrich Himmler, gefangene Jüdinnen*Juden, Sinti*zze und Rom*nja, Pol*innen sowie Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion der Gestapo aus, was für viele von ihnen den Tod bedeutete.7



Der Präparationssaal von Außen | Credit: Eigenaufnahme



Die Münchner Anatomie profitiert


Das Münchner Anatomische Institut profitierte in hohem Maße von diesem verschärften Justizterror des NS-Regimes, der an der Hinrichtungsstätte im Gefängnis Stadelheim durchgesetzt wurde. Obwohl die Anatomische Anstalt in München (im Gegensatz zu anderen Anatomien) in den 1930er Jahren scheinbar keine Probleme hatte, genügend Leichen für wissenschaftliche Zwecke zu beschaffen, entpuppte sie sich als Hauptnutznießer dieser Dynamik - insbesondere auch im Vergleich zu den anderen anatomischen Instituten in Erlangen, Innsbruck und Würzburg, die ebenfalls Leichen aus der Hinrichtungsstätte im Gefängnis Stadelheim bezogen.8 Zunächst war diese Position der günstigen Lage der Münchner Anatomie geschuldet, doch mit der Zeit und vor allem mit den sich verschlechternden logistischen Bedingungen während des Zweiten Weltkriegs, wandelte sich diese privilegierte Position von einer passiven zu einer aktiven Rolle. Der immer stärker werdende Zustrom von Leichen aus der Hinrichtungsstätte Stadelheim festigte die Position der Münchner Anatomie gegenüber den Schwesterinstituten in Erlangen, Würzburg und Innsbruck und machte sie zum zentralen Verteilpunkt der Leichenbeschaffung aus Stadelheim.9 Dies führte unter anderem zu der fast unüberwindlichen Verwirrung über den Verbleib der Leichen nach dem Krieg, als die Münchner Leichenjournale verschwunden waren. Bedeutend für die Umsetzung und den Ausbau der Leichenbeschaffung aus dem Gefängnis Stadelheim war der bereits genannte Anatomieprofessor und Institutsleiter Max Clara. Der berüchtigte NS-Schützling (Mitglied der NSDAP sei 1935, sowie des NSDÄB) bat die Stadelheimer Behörden den Angehörigen von hingerichteten Häftlingen jede Auskunft über das Schicksal der Leichen zu verweigern und trieb stattdessen die eigene Forschung an diesen Leichen voran.10 Max Clara publizierte zusammen mit seiner Arbeitsgruppe insgesamt 38 wissenschaftliche Arbeiten, in denen er die Leichname Hingerichtete nutzte. Das Clara zur Verfügung stehende “lebensfrische Material” erlaubte ihm beispielsweise die Beschreibung der im Verlauf nach ihm benannten bronchiolaren Epithelzellen – der Clara-Zelle.11

Auch wenn die Verwendung der Leichname Hingerichteter an allen anatomischen Instituten im Dritten Reich zum wissenschaftlichen Alltag gehörte, so stach Clara doch besonders hervor, da er auch aktiv Humanexperimente durchführen ließ. In mehreren seiner Publikationen wurden den Verstorbenen vor dem Tod eine Tablette Vitamin C (Cebion) verabreicht, um post mortem die Verteilung dieser Substanz histochemisch nachzuweisen.12 In vielen Fällen handelte es sich dabei um zum Tode verurteilte Personen, was geschichtswissenschaftlich als Paradigmenwechsel eingeordnet wird.13

Aufgrund seiner nationalsozialistischen Gesinnung wurde Clara nach dem Krieg aus dem Dienst entlassen. Nach einem Jahr in amerikanischer Inhaftierung erfolgte die Einstufung an Mitläufer, im Verlauf sogar als entlastet. Dennoch und trotz mehrerer Versuche Claras, wehrte sich die Anatomische Fakultät erfolgreich gegen eine Wiedereinstellung. Erst im Sommer 1950 folgte er einem Ruf als Gastprofessor an die Universität in Istanbul, an der er bis 1961 wirkte und noch mehrere wissenschaftliche Arbeiten publizierte. Clara scheute sich keineswegs klarzustellen, auf welcher Art von Untersuchungsmaterial seine Ergebnisse basierten.14 Darüber hinaus konnte ausführlich gezeigt werden, dass Clara, um seine Forschungsergebnisse aufzubessern, Daten fälschte oder Untersuchungsabläufe vertauschte beziehungsweise nur selektiv präsentierte. Clara verstarb 1966 in München.


Blick auf die Anatomie aus dem Innenhof der ehemaligen Chirurgischen Klinik | Credit: Eigenaufnahme




Deutsche Anatomie während der NS-Diktatur


Die Verwendung der Leichname von Hingerichteten einte alle anatomische Anstalten im nationalsozialistischen Deutschland. Der Eingangs erwähtne Leiter der Anatomie in Berlin Hermann Stieve äußerte sich wie folgt: 

„Durch die Hinrichtungen erhält das Anatomische und anatomisch-biologische Institut einen Werkstoff, wie ihn kein anderes Institut der Welt besitzt. Ich bin verpflichtet, diesen Werkstoff entsprechend zu bearbeiten, zu fixieren und aufzubewahren.“15
Zwischen 1939 und 1945 erhielt Stieve, der nicht Mitglied der NSDAP war, 269 Körper toter Frauen aus den Haftanstalten und Lagern Ravensbrück und Plötzensee. Es konnte gezeigt werden, dass er dabei nicht nur eine passive Rolle innehatte, sondern mehrfach aktiv auf die Hinrichtungstermine Einfluss nahm, um zum Biespiel eine zeitnahe Überstellung der Leichname an seine Anstalt zu ermöglichen. Stieve forschte unter anderem an dem Einfluss von Stress auf den weiblichen Menstruationszyklus und nutzte die Inhaftierung und Hinrichtung politisch verfolgter Frauen zu diesem Zweck. Ähnlich wie Max Clara verheimlichte Stieve die Herkunft der Präparate in seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht. In seinen Veröffentlichungen beschreibt er das anhaltende Ausbleiben oder plötzliche Einsetzen der Menstruationsblutung bei jungen Frauen und führt diese auf starke psychische Anspannung zurück – zum Beispiel im Rahmen einer Haftstrafe oder der Verkündung eines Todesurteils. Udo Schagen (*1939) konnte darstellen, dass die damalige Fachwelt eindeutige Kenntnis über die Hintergründe der Forschungspräparate hatte und auch im Zuge des sich ausweiten NS-Terrors von einer Zunahme der Hinrichtungen ausgehen konnte.16 Unter den Opfern des NS-Regimes, die von Stieve seziert wurden, waren beispielsweise Wanda Kallenbach, Elfriede Scholz, die Widerstandskämpferin Cato Bontjes von Beek, Erika von Brockdorff, Wera Apollonowna Obolenskaja und die im Eingang erwähnte Helene Delacher.17


Antrittsrede von Eduard Pernkopf in SA-Uniform im April 1938 in Wien | Credit: Österreichische Nationalbibliothek 



Ein weiteres Beispiel ist der ab 1937 von Eduard Pernkopf (1888-1955) veröffentliche Anatomieatlas (Anatomie des Menschen, Atlas der regionär-stratigraphischen Präparation). Bis zu einer Studie der Universität Wien im Jahr 1998 wurde der Atlas, zuletzt von Werner Platzer, einem Anatom in Innsbruck und ehemaligem Schüler Pernkopfs, herausgegeben. Die Untersuchung setzte sich mit der Entstehungsgeschichte des Atlas auseinander und konnte zeigen, dass Präparate Hingerichteter bei der Erstellung des Atlas verwendet wurden.18 Dabei stach Pernkopf als besonders engagierter und überzeugter Nationalsozialist hervor. Der ab 1933 der NSDAP und ab 1934 der SA zugehörige Anatom, übernahm 1938 die Leitung der Medizinischen Fakultät der Universtität Wien. Zuvor hatte er sich aktiv für die Gleichschaltung der Universität eingesetzt und unter anderem zur Entlassung und Verhaftung des jüdischen Medizin-Nobelpreisträgers Otto Loewi (1873-1961) beigetragen. Loewi wurde vor seiner Flucht nach London 1938 von der Gestapo dazu gezwungen das Nobel-Preisgeld abzugeben.19 Pernkopf stellte bei seiner Antrittsrede als Dekan klar, dass er für den Nationalsozialismus einstehen werde und plädierte für die „[…] Ausschaltung der Erbminderwertigen, durch Sterilisation und andere Mittel.”20 Wie Clara und Stieve nutzte auch Pernkopf nachweislich die Leichname Hingerichteter für seine Forschung und die Zeichnung der Atlasbilder. Schätzungsweise stammt etwa die Hälfte der dargestellten Präparate im „Pernkopf-Atlas“ von hingerichteten politischen Gefangenen.21


Fehlende Aufarbeitung


Noch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Weltkrieges wurde die Versorgung aus Stadelheim von den Münchner Anatom*innen eher unkritisch als Ausnahmezustand in Erinnerung behalten. So wurden beispielsweise bis zum Wintersemester 1947/48 noch Leichname von in Stadelheim hingerichteter Menschen im Anatomiekurs verwendet.22 Als die Leichenbeschaffung der bayerischen Anatomien schließlich 1961 endgültig auf Transparenz und Spendenwesen umgestellt wurde, hielt Titus von Lanz (1897-1967) als Leiter des Anatomischen Instituts fest, dass die Münchner Anatomie nun "[…] so viele Leichen wie seit Jahrzehnten" habe - vergleichbar nur mit dem "Sonderjahr" 1944.23 Die Einordnung und Beschreibung erscheint äußerst unangemessen vor dem Hintergrund des Schreckens der nationalsozialistischen Diktatur. Der Umstellung des Beschaffungswesen von Leichnamen für die Münchner Anatomie ging ein Jahre langer Streit innerhalb der bayerischen Politik voraus, an dem sich der teils unkritische Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des Fachs gut rekonstruieren lässt. Letztendlich konnte sich das heutige auf Freiwilligkeit beruhende Spendenwesen gegen den Versuch die Vorkriegswege der Leichenbeschaffung zu reaktivieren durchsetzen – entgegen dem Wunsch der Münchner Anatomie. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Großteil der deutschen Anatomen von den NS-Verbrechen profitierte, indem sie Leichname von NS-Opfern nutzten. Die große Mehrheit von Anatomen hatte dabei bis weit in die Nachkriegszeit kaum moralische Bedenken. Dass sie dabei die Opfer eines menschenverachtenden Regimes zu anatomischem Material und Werkstoff degradierten, erkannten die Anatomen nicht, wollten es nicht erkennen oder gingen darüber hinweg. Grund dafür war nur zum Teil eine offen nationalsozialistische Gesinnung. Viele Anatomen, die nicht aktiv der NS-Ideologie folgten, beharrten auf einer sogenannten rein wissenschaftlichen Sichtweise und blendeten eine eigenständige ethische Bewertung der gesellschaftlichen Umstände ihrer Tätigkeit aus.24

1988 wurde das Schweigen der Anatomen zu den von ihnen genutzten NS-Opfern zum ersten Mal an der Universität Tübingen gebrochen. Nach einer ausführlichen Untersuchung an der Anatomie in Tübingen, wurden Präparate aus der NS-Zeit identifiziert, angemessen bestattet und der Opfer gedacht.25 Dennoch benötigte es politischen Druck – auch von außerhalb Deutschlands – dass diese Prozesse auch an anderen Standorten in Gang gesetzt wurden. Erst 2013 wurde eine erste wissenschaftliche Arbeit über die Geschichte der Münchner Anatomie und der anatomischen Anstalt während der NS-Zeit veröffentlicht. Zudem wurde in den Jahren darauf eine Kommission damit beauftragt die Anatomische Sammlung des Instituts auf die Herkunft der Präparate und Ausstellungsstücke zu untersuchen. Sie stellte fest, dass die Präsenz von Exemplaren, die von Körpern von NS-Opfern stammen in der Sammlung zwar höchst unwahrscheinlich sei, in Einzelfällen jedoch nicht ausgeschlossen werden können. Es wurden zwei Kopfpräparate festgestellt, deren Herkunft und Alter nicht geklärt werden konnte. Abgesehen von diesen beiden unklaren Gegenständen, empfahl die Kommission die Sammlung so zu belassen, aufgrund der historischen Wertes und deren Einzigartigkeit.26



Eponyme sind Begriffe, die auf die Eigennamen von Einzelpersonen zurückgehen. In der Medizin werden Krankheiten, Therapieansätze, biologische Strukturen oder Prozesse nach ihren Entdecker*innen benannt und kommen in der medizinischen Fachsprache häufig vor. Dadurch soll den Personen für ihre Leistung Anerkennung verliehen werden. Im Zuge der historischen Aufarbeitung allerdings, insbesondere auch in Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheit mancher Personen, entstand in den letzten Jahren eine zunehmende Debatte um die Aberkennung bzw. Umbenennung belasteter Eponyme. 2015 organisierte der italienische Arzt und Rabbiner Cesare Efrati in Rom ein Symposium, auf dem auf internationaler Ebene belastete Begriffe ausfindig und gemeinsame Änderungsvorschläge gemacht werden sollten. Diverse medizinische Fachgesellschaften haben bereits Stellungnahmen mit der Umbenennung in pathophysiologische Bezeichnungen veröffentlicht. Die Umsetzung gestaltet sich jedoch schwierig, da zum einen die bekannten Begriffe gewohnter Teil des klinischen und wissenschaftlichen Alltags sind. Zum anderen fehlen teilweise noch adäquate Alternativbegriffe, wie beispielsweise beim Asperger-Syndrom. Anbei eine kurze und bei Weitem nicht vollständige Liste bekannter Beispiele. 


EponymHistorische EinordnungAlternative
Morbus WegenerFriedrich Wegener (1907-1990) war deutscher Pathologe, Mitglied der NSDAP, SA und des NSDÄB.Granulomatose mit Polyangiitis (GPA), seit 2011.
Reiter-SyndromHans Reiter (1881-1969) war Hygieniker und unter anderem Präsident des Reichsgesundheitsamts. Als Mitglied im Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik war er an der Planung von Typhusexperimenten an Häftlingen im KZ Buchenwald mitbeteiligt.27Reaktive Arthritis
Hallervorden- Spatz-SyndromDie Neurologen Julius Hallervorden (1882-1965) und Hugo Spatz (1888-1969) forschten an Gehirnen von Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Behinderung während der NS-Diktatur hingerichtet wurden. Sie nutzten die Hirnschnitte bis in die 1960er Jahre.28Pantothenatkinase-assoziierte Neurodegeneration (PKAN)
Asperger-
Syndrom
Der Kinderarzt Hans Asperger (1906-1980) war an den Euthanasie-Verbrechen während der NS-Zeit beteiligt.
Autism spectrum disorder without disorder of intellectual development and with mild or no impairment of functional language (ICD-11)

Die deutsche Übersetzung ist zum Stand Juni 2024 noch nicht veröffentlicht.

Clara-Zelle
Max Clara (1899-1966) war deutscher Anatom und forschte an den Leichnamen von Hingerichteten. Zudem gab er Betroffenen bewusst vor ihrer Hinrichtung Vitamin-C Präparate, um deren Verstoffwechslung nach der Ermordung histologisch nachzuweisen. 
Club-Cell, Keulenelle (seit 2012).


 

Ein grundlegender Teil des vorklinischen Medizinstudiums ist das Fach Anatomie. Im Rahmen dessen findet der sogenannte Präparierkurs statt, in dem sich die Studierenden in Gruppenarbeit durch Zergliederung (Präparation) die einzelnen Strukturen des menschlichen Körpers erarbeiten und so den Aufbau des menschlichen Körpers kennenlernen. Hierfür werden pro Jahr in der Münchner Anatomie viele Leichname von Körperspender*innen benötigt. Die Körperspende findet freiwillig auf eigenen Wunsch statt und muss vor dem Tod mit dem Institut ausgemacht werden. Es gibt einige Einschlusskriterien und Bedingungen. So müssen die Personen mindestens 50 Jahre alt sein. Außerdem ist eine Zahlung von €1.150.- notwendig, wobei der Zuzahlungsbetrag bei nachgewiesener Bedürftigkeit reduziert werden kann. Die über diesen Betrag hinausgehenden Kosten, wie sie für Gebühren, Überführung, Feuerbestattung, etc. anfallen, werden von der Anatomie getragen. Registrierte Körperspender*innen erhalten einen eigenen Ausweis. Nach dem Tod wird der Leichnam mit Hilfe einer geeigneten Flüssigkeit konserviert und bis zur Präparation im Kurs aufbewahrt. Nach dem Präparierkurs erfolgt eine Feuerbestattung sowie die Urnenbeisetzung auf der Grabanlage der Anatomischen Anstalt im Waldfriedhof in München. Außerdem gestalten die Medizinstudierenden des jeweiligen Jahrgangs in der Universitätskirche St. Ludwig eine feierliche Gedenkstunde, zu der auch die Angehörigen der Verstorbeneneingeladen werden.
  





  1. Helene Delacher. Eine glaubensstarke Zeugin Jehovas, in: Horst Schreiber, Gerald Steinacher, Philipp Trafojer: Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol: Opfer, Täter, Gegner, 2008, S. 172f.
  2. Vgl. Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“. In: Studien zur Zeitgeschichte. 4. Auflage. Band 42. Oldenburg, München 1999.
  3. Amnesty International: Report 2022/2023, United Kingdom, 2023. S. 492.
  4. Mathias Schütz; Jens Waschke, Georg Marckmann; Florian Steger: The Munich Anatomical Institute under National Socialism. First Results and Prospective Tasks of an Ongoing Research Project. Annais of Anatomy 195 (2013), S. 296-30.
  5. Vgl. Sabine Hildebrandt: Capital punishment and anatomy: history and ethics of an ongoing association. Clin Anat 21:5–14, 2008.
  6. Mathias Schütz: Das Strafgefängnis Stadelheim als zentrale Hinrichtungsstätte im Nationalsozialismus. Entwicklungen und Opfer, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64, 2016, S. 854 – 876.
  7. Vgl. Irene Stuiber: Hingerichtet in München-Stadelheim, München 2004.
  8. Sabine Hildebrandt: The Anatomy of Murder: Ethical Transgressions and Anatomical Science during the Third Reich, New York 2016, S. 128 ff. 
  9. Mathias Schütz et al.: Munich anatomy and the distribution of bodies from the Stadelheim execution site during National Socialism in: Anatomischer Anzeiger, vol. 211, 2017, S. 2 – 12. 
  10. Thorsten Noack: Anatomical departments in Bavaria and the corpses of executed victims of National Socialism. Ann Anat 194, 2012, S. 286-292.
  11. Andreas Winkelmann und Thorsten Noack: The Clara Cell: a “Third Reich eponym”? In: European Respiratory Journal 36, 2010, S. 722-727. 
  12. Mathias Schütz et al.: Anatomische Vitamin C–Forschung im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit: Max Claras Humanexperimente an der Anatomischen Anstalt, Medizinhistorisches Journal, Vol. 49, No. 4, 2014, S. 330–55.
  13. Vgl. Hans Joachim Lang: August Hirt and "extraordinary opportunities for cadaver delivery" to anatomical institutes in National Socialism: A murderous change in paradigm. Annais of Anatomy 195 (2013), S. 373 - 380.
  14. Matthias Schütz et al., 2014. 
  15. Wilhelm Bartsch: Ein Meister aus Deutschland – der Anatom und Gynäkologe Hermann Stieve. In: Ärzteblatt Sachsen-Anhalt. 4, 2007, S. 52–55.
  16. Udo Schagen: Die Forschung an menschlichen Organen nach "plötzlichem Tod" und der Anatom Hermann Stieve (1886-1952). In: Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Band II: Fachbereiche und Fakultäten, Hrsg.: Rüdiger v. Bruch, Frankfurt 2005. S. 35 – 54.  
  17. Wilhelm Bartsch, 2007. 
  18. Peter Malina und Gustav Spann: Senatsprojekt der Universität Wien „Anatomische Studien in Wien 1938–1945“. Wiener Klinische Wochenschrift. 1999; 111. S. 743–753. 
  19. Otto Loewi: An autobiographical sketch, in: Perspectives in Biology and Medicine. Bd. 4 (1960), S. 3–25. 
  20. Wolfgang Lamsa: Pernkopf-Atlas. Die Inaugurationsrede des Eduard Pernkopf und seine „wissenschaftliche“ Arbeit. Siegfrieds Köpfe. Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus an der Universität Wien, Wien 2002. S. 135–145.
  21. Vgl. Peter Malina und Gustav Spann, 1999. 
  22. Jens Waschke et al.: Evaluation of the Anatomical Collection at the Anatomical Department I of LMU Munich concerning specimens deriving from victims of National Socialism, Anatomische Gesellschaft, Online: abgerufen am 2 Juni 2024, S. 9. 
  23. Mathias Schütz: Erzwungener Wandel: Die Transformation der anatomischen Leichenbeschaffung in Bayern
  24. Christoph Redies und Sabine Hildebrandt: Anatomie im Nationalsozialismus: Ohne jeglichen Skrupel, Deutsches Ärzteblatt 2012; 109(48): A 2413–5
  25. Jürgen Peiffer: Neuropathology in the Third Reich. [Memorial to those victims of National-Socialist atrocities in Germany who were used by medical science]. Brain Pathology 1991; 1(2): 125–31. 
  26. Jens Waschke et al.: Evaluation of the Anatomical Collection at the Anatomical Department I of LMU Munich concerning specimens deriving from victims of National Socialism, Anatomische Gesellschaft, Online: abgerufen am 2. Juni 2024, S. 10.
  27. Weisman Wallace: The physician Hans Reiter as prisoner of war in Nuremburg: a contextual review of his interrogations (1945 – 1947). In: Seminars in Arthritis and Rheumatism. Band 32, Nummer 4, 2003, S. 208 ff. 
  28. Martin et al.: Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit: Hirnforschung und „Euthanasie“. In: Der Nervenarzt. Band 87, Nummer S1, 2016, S. 30-41.





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