RASSISMUS IN DER WISSENSCHAFT

Lehmanns Buchhandlung

Eingang der heutigen Buchhandlung in der Goethestraße 41 | Credit: Eigenaufnahme



Die Fachbuchhandlung Lehmanns


Unter Münchner Medizinstudent*innen stellt trotz Digitalisierung und E-Medienservice der Universitätsbibliothek die Fachbuchhandlung Lehmanns in der Goethestraße 41 einen wichtigen Ort im Studium dar. Hier erwerben Student*innen und Ärzt*innen Fachliteratur, Utensilien und klinische Nachschlagewerke. Der Name Lehmann ist allen bekannt, doch die Geschichte hinter der Person und dem Verlag kaum. Insbesondere im Hinblick auf das Erstarken rechtsnationaler Bewegungen und dem Wiederaufkommen völkischer und antisemitischer Meinungen in Deutschland, erscheint ein Blick auf die Bedeutung von Propaganda und ideologisch verzehrter Wissenschaft sinnvoll. Die Historie des J. F. Lehmann Verlags bietet dazu ausreichend Material.


Julius F. Lehmann


Benannt ist die Buchhandlung und Mediengroup nach dem deutschen Verleger Julius Friedrich Lehmann (1864-1935), der ab 1900 eine wichtige Rolle in der Verbreitung und wissenschaftlichen Legitimierung rassistischer und antisemitischer Ideologie gespielt hat. Der in Zürich geborene Julius F. Lehmann stammte aus einer wohlhabenden Familie. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler erwarb er im Jahr 1900 den Verlag der Zeitschrift Münchner Medizinische Wochenschrift (MMW) und ließ sich in München nieder. Das Verlagshaus war in der Schillerstraße 51 unweit der heutigen Filiale gelegen. Die damals zu dem Verlag bereits gehörende Buchhandlung wurde von seinem Cousin Max Staedtke geführt. Sowohl durch die Herausgabe verschiedener medizinischer Fachbücher und Anatomieatlanten als auch den stets wachsenden Vertrieb der MMW, entwickelte sich der Verlag rasch zu einem bekannten Namen im Deutschen Reich. 

Lehmanns politische und ideologische Überzeugungen prägten nachhaltig die Inhalte des Verlags.1 So lässt sich seine Zugehörigkeit zum rechtsnationalistischen Spektrum bereits in die 1880er zurückverfolgen. Beispielsweise war er im Ausschuss des völkischen Alldeutschen Verband (ADV) aktiv und mit seinem Verlag unter anderem Herausgeber der vom ADV verfassten Schriftenreihe Der Kampf um das Deutschtum. Neben seiner nationalistisch geprägten Verlagsarbeit unterstützte er sehr früh die rassenhygienische Bewegung, die ihre Anfänge in München hatte. Sowohl persönlich als Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene als auch als Verleger diverser rassenideologischer Bücher und Zeitschriften von bekannten Autoren wie Ernst Rüdin, Alfred Ploetz, Fritz Lenz, Eugen Fischer oder Joseph Arthur de Gobineau, war Lehmann ein zentraler Wegbereiter für die Verbreitung rassistischen Gedankenguts. Nach der deutschen Kapitulation im Ersten Weltkrieg und der Gründung der Weimarer Republik zeigte sich Lehmann stark republikfeindlich und unterstütze aktiv die Verbreitung der sogenannten Dolchstoßlegende durch den Vertrieb von Büchern wie Im Felde unbesiegt von Gustaf von Dickhut-Harrach.2 Darüber hinaus bereitete er durch die starke Fokussierung auf rassenhygienische Inhalte den ideologischen Weg für den nationalsozialistischen Antisemitismus. Sowohl das bereits erwähnte Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie als auch die monatlich erscheinende Zeitschrift Volk und Rasse waren wichtige Medien und wissenschaftliche Grundpfeiler der nationalsozialistischen Propaganda und wurden von Lehmann vertrieben. 
Über Stationen bei der Nationalliberalen Partei und der Deutschnationalen Volkspartei fand Lehmann 1920 sein politische Heimat in der NSDAP. Abgesehen von der bereits beschriebenen Schlüsselrolle als Verleger und Vertreiber antisemitischen und rassistischen Gedankengutes, entwickelte sich Lehmann auch zu einem wichtigen direkten Geldgeber für die NSDAP in den Anfängen der Parteigeschichte. Er stellte seine Immobilien wie zum Beispiel die Burg Hoheneck der SA zur Verfügung und bot den Geißeln und Beteiligten des Hitler-Putsches 1923 Unterschlupf. Die medizinische Fakultät der LMU München verlieh ihm die Ehrendoktorwürde.3 Im März 1935 verstarb Julius Lehmann in München an einer Infektion.


Titelseite der Zeitschrift “Volk und Rasse” aus dem Jahr 1941, erschienen im J. F. Lehmanns Verlag | Credit: J. F. Lehmanns Verlag



Rassentheorie


Zu dem literarischen Erbe des J. F. Lehmann Verlags zählen eine Reihe relevanter Werke für die theoretische Grundlage der Rassenhygiene. So diente beispielsweise ab 1904 das Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie als zentrale wissenschaftliche Publikationsquelle für die deutschsprachige Rassentheorie diente und wurde von dem Arzt Alfred Ploetz in Berlin herausgegeben.4 Von 1922 bis 1939 vertrieb der Lehmanns Verlag in München die sechs Mal im Jahr erschienene Fachzeitschrift. Ploetz hatte bereits 1905 in Berlin die Gesellschaft für Rassenhygiene gegründet, die ab 1921 eine Ortsgruppe in München hatte. Der erste Satz der Satzung lautet: 

“Die internationale Gesellschaft für Rassenhygiene bezweckt die Förderung der Theorie und Praxis der Rassenhygiene unter den weißen Völkern.”5
Bis in die 1920er Jahre herrschte innerhalb der Gesellschaft für Rassenhygiene mitunter auch ein interner Streit, um die Positionierung und Ausrichtung der Vereinsarbeit. So kursierten unterschiedliche Auffassungen über die Vorstellung des nordischen Übermenschen. Unter anderem Max von Gruber, ehemaliger Leiter des Münchner Instituts für Hygiene und Mikrobiologie in der Pettenkoferstraße, distanzierte sich vehement von dieser rassistischen Auffassung. 1933 folgte die Gesellschaft für Rassenhygiene jedoch vollends dem Kurs der Nationalsozialisten unter der Leitung von Ernst Rüdin und stellte zum Teil das wissenschaftliche Fundament der NS-Vernichtungspolitik und Euthanasiemaßnahmen dar.6 Im Folgenden ist eine Ausgabe der Zeitschrift Volk und Rasse dargestellt. Klicke hier um die volle Zeitschrift im digitalen Archiv zu lesen.


Volk und Rasse, Ausgabe 4/1941, S. 2 -3 im J. F. Lehmanns Verlag
Volk und Rasse, Ausgabe 4/1941, S. 4 - 5 im J. F. Lehmanns Verlag

Moderne Fachliteratur, Rassismus und fehlende Wissenschaftskritik


Nach dem Tod Lehmanns 1935 übernahm sein Schwiegersohn Otto Spatz den Verlag. Trotz der im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zunehmenden Versorgungsnot, konnte der Betrieb des Verlags aufrecht gehalten werden, da dieser als kriegswichtig eingestuft worden war. Nach dem Krieg wurde der J. F. Lehmanns Verlag erst unter Treuhandverwaltung gestellt und dann 1946 vom Verlag Urban & Schwarzenberg aufgekauft.7 Der Verlagsname lebte weiter in der Firma Lehmanns Fachbuchhandlung, heute unter dem Firmennamen Lehmanns Media GmbH. Bis heute findet sich keine Stellungnahme oder historische Aufarbeitung der Verlagsgeschichte in den Filialen oder auf der Homepage der Lehmanns Media GmbH.8

Anhaltend hält sich die Annahme insbesondere auch in der biomedizinischen Welt, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse auf genetischen oder physiologischen Gemeinsamkeiten beruht. Dafür fehlt jegliche Evidenz. So konnten beispielsweise in einer Studie gezeigt werden, dass es größere genetische Unterschiede zwischen benachbarten Menschen aus dem subsaharischen Raum gab, als zwischen ihnen und Menschen aus Europa.9 Dennoch bleibt die Vorstellung, dass Menschen anhand ihres Aussehens, der Pigmentierung ihrer Haut aber auch anhand kultureller und sozialer Eigenschaften wie Sprache, Religion und Staatszugehörigkeit in Gruppen unterteilt werden können. Diese Klassifikation wird mit geographischer Herkunft und erblicher Stabilität verbunden.10 Rassismus wiederum ist einfach gesagt die Vorstellung, dass sich innerhalb dieses Systems und zwischen den verschieden Gruppen eine eindeutige und auf einem linearen Entwicklungsmodell beruhende Hierarche erkennen lässt.


Eugenische NS-Propaganda aus der Zeitschrift “Volk und Rasse” | Credit: J. F. Lehmanns Verlag
Eugenische NS-Propaganda aus der Zeitschrift “Volk und Rasse” | Credit: J. F. Lehmanns Verlag

Anhand der Verlagsgeschichte Lehmanns lässt sich gut rekonstruieren, dass diesem Rassismus eine mittlerweile Jahrhundert alte (pseudo-)wissenschaftliche Vergangenheit vorausgeht. Ruth Siasny schreibt beispielsweise in diesem Kontext: „Wissenschaft machte Rassismus historisch und bis in die jüngere Vergangenheit theoretisch verfügbar und stellt nicht etwa eine Barriere für die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus dar, sondern war schließlich maßgeblich an ihrer Operationalisierung und Exekution beteiligt.“11 Diese rassistische Annahmen und Stereotype betreffen auch heute anhaltend diskriminierte Personengruppen und stellen immer wieder ein gesundheitliches Versorgungsrisiko dar.12 So konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass bei Schwarzen Frauen in den USA Herzinfarkte sehr viel häufiger übersehen und in Folge nur halb so häufig behandelt werden.13 Für Großbritannien ist bekannt, dass die Sterblichkeit Schwarzer Mütter infolge von Geburtskomplikationen fünfmal so hoch ist wie in der weißen Mehrheitsbevölkerung.14 Hinzu kommt, dass abgesehen von einer auf individuellen und strukturellen Rassismen beruhende Ungleichbehandlung beruhenden medizinischen Gesundheitsversorgung, neuere Forschung eindrücklich zeigt, dass die alltägliche Erfahrung von Rassismus an sich zu psychischer Erkrankung führt.15 Um dagegen etwas tun zu können, müssten Mediziner*innen auf die spezifischen Bedürfnisse diskriminierter Gruppen eingehen können. Doch sogar in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Lehre und Praxis ist Rassismus immer noch ein Randthema, sodass Psychotherapeut*innen kaum Erfahrung im Umgang mit Diskriminierungserfahrungen haben. 

Wichtig zu betonen ist dabei, auch wenn es keine wissenschaftliche Evidenz für die biomedizinische Kategorie verschiedener Menschenrassen gibt, so ist die soziokulturell und historische konstruierte Kategorie Rasse sehr wohl real und wirkmächtig. Um diesen Umstand zu verdeutlichen, existieren verschiedene Beschreibungsansätze. Die schlechtere Gesundheitslage ist daher nicht als erblich bedingte Anlage, sondern als Folge systemischen und individuellen Rassismus zu verstehen. Um die Funktionen und Wirkungen rassischer Kategorisierung zu erfassen, bedarf es daher einer gesellschaftskritischen Perspektive und einem Verständnis für den historischen Kontext. Immer lauter und konkreter werden daher auch in der Medizin die Forderungen nach antirassistischer Arbeit in medizinischer Forschung, Lehre und Klinik. Diverse Fachzeitschriften und medizinische Fachgesellschaften hinterfragen zunehmend internen Rassismus. Das New England Journal of Medicine beispielsweise reflektiert in seiner Sammlung race and medicine Rassismus als eine Krise der öffentlichen Gesundheit.16 Der Lancet veröffentlichte im Dezember 2022 eine Serie mit dem Titel On racism, xenophobia, discrimination, and health.17 Vergleichsweise leise verhalten sich jedoch ähnliche Impulse aus dem deutschsprachigen Raum. Der Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors mit dem Schwerpunkt Gesundheit aus dem Jahr 2023 offenbart auch in Deutschland erhebliche Gesundheitsfolgen von Rassismus. Die in der Veröffentlichung enthaltenden Empfehlungen adressieren dabei Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gleichzeitig.18

Die Auseinandersetzung mit den historischen Ursprüngen und der wissenschaftlichen Kontinuität von Rassismus stellt einen wichtigen Beitrag in der anhaltenden und kritischen Reflexion sozialer Ungleichheit dar. Die vom Lancet zusammengestellte Kommission on medicine, Nazism, and the Holocaust: historical evidence, implications for today, teaching for tomorrow stellt klar, dass insbesondere der Medizin vor dem Hintergrund der historischen Beteiligung an den unvergleichbaren Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle in der Verhinderung solcher Taten zukommt.19 Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass das Erlernen und Reflektieren dieser Geschichte für Lernende und Praktizierende der Gesundheitswissenschaften sowie für die Patient*innen, denen sie dienen, von großem Nutzen ist. In den Lehrplänen der Gesundheitswissenschaften wird dieses Thema jedoch nur selten behandelt. Die Grundwerte und die Ethik des Gesundheitswesens sind zerbrechlich und müssen geschützt werden. Sie bedürfen einer ständigen kritischen Bewertung und Verstärkung. Dieser medizinhistorische Rundgang leistet dazu einen Beitrag.



Immer wieder begegnen wir auf unserem medizinhistorischen Rundgang durch München der Frage nach der Wissenschaftlichkeit medizinischer Forschung unter der nationalsozialistischen Diktatur. Dabei werden verschiedene ethische Probleme apparent, die wir im folgenden Exkurs kurz anreißen. Wie wir im Kontext des J. F. Lehmann Verlags zeigen konnten, spielte die biomedizinische Forschung eine eklatante Rolle in der Legitimierung der nationalsozialistischen Ideologie. Anschauungskurse, Fach- und Laienliteratur sowie genealogische Beratungen festigten rassistische Vorstellungen in der Gesellschaft und lieferten konkrete Handlungsempfehlungen für die antisemitische Vernichtungspolitik der NS-Diktatur. Dabei wäre die Interpretation dieses Umstandes als eine reine politische Instrumentalisierung jedoch viel zu kurz gegriffen. Vielmehr spiegelt sich darin die gesellschaftspolitische Prägung der Wissenschaft. 

Der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984) stellt in seiner Wissenschaftskritik den objektiven Anspruch und Schein moderner Wissenschaft grundsätzlich in Frage. In seinen Arbeiten hinterfragt Foucault Machtstrukturen und Diskurse, die das Wissen und die wissenschaftlichen Praktiken prägen. Er betont, dass Wissen nicht neutral oder objektiv ist, sondern durch gesellschaftliche Machtverhältnisse und historische Bedingungen geformt wird. Dabei analysiert er, wie bestimmte Wissensformen zur Kontrolle und Disziplinierung von Individuen und Gesellschaften beitragen. Sein Ansatz zeigt, dass Wissenschaft und Wissen eng mit Macht verbunden sind und dass diese Beziehung kritisch untersucht werden muss. Ein Umstand der sich in der gegenseitigen Beeinflussung medizinischer Praxis sowie Forschung und nationalsozialistischer Politik äußert. 

Auch wenn dieser wissenschaftskritische Ansatz zu einer historischen Einordnung der Forschungstätigkeit von Ärzt*innen zur NS-Zeit führt, so stellt sich dennoch die schwierige Frage des Umgangs mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die sich aus den Menschenrechts verletzenden und grauenhaften Humanexperimenten ergeben. Dabei wird es keine eindeutige Lösung geben können, dennoch sollte klar sein, dass eine anhaltende Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Medizin im Sinne der Aufarbeitungs- und Erinnerungspolitik notwendig ist. Häufig wird in diesem Kontext der heutige Nutzen für die angewandte Medizin als ethischer oder moralischer Maßstab angewandt. Der israelische Wissenschaftlicher Velvl Greene (1928-2011) äußerte sich zu der Frage wie folgt: 

„We might never fully understand "why" and "how," but at least we can remember "what." That is what the victims and their survivors asked. We should also remember our colleagues who did it and our close cultural and professional affinity to them.”20
Darüber hinaus führte die Aufarbeitung der im Rahmen der NS-Diktatur durchgeführten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Etablierung medizinethischer Standards für die Durchführung von Experimenten an Menschen sowie für die ärztliche Rolle im Allgemeinen. Als ein Ergebnis des Nürnberger Ärzteprozess von 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947, bei dem 23 Personen für ihr Mitwirken bei der Organisation und Durchführung von Menschenversuchen und Krankenmorde angeklagt und zum Teil verurteilt wurden, entstand der sogenannte Nürnberger Kodex. Dieser stellt eine medizinethische Richtlinie für die Planung und Durchführung von Experimenten an bzw. mit Menschen dar. Nachdem der Kodex als Teil der Urteilsverkündung des Nürnberger Ärzteprozesses verlesen wurde, galt dieser lange Zeit als ethischer Grundsatz in der medizinischen Ausbildung. 1997 erfolgte eine Anpassung. Die aktuelle Version findet sich hier.21 Außerdem wurde vom Weltärztebund 1964 in Helsinki die gleichnamige Deklaration zu den Ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen veröffentlicht. Diese Deklaration von Helsinki wurde mehrfach überarbeitet und gilt in ihrer letzten Revision von 2013 als medizinethische Grundlage ärztlichen Handelns. Die aktuelle Version findet sich hier.22  




Dokumentation über den Nünberger Ärzteprozess | Credit: Chronos Media GmbH


Um die soziale Konstruktion der Begrifflichkeit Rasse zu verdeutlichen, existieren diverse Vorschläge zur Begriffsverwendung und Schreibweise. Das Wort Rasse hat im deutschsprachigen Diskurs vor allem seit der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus eine negative Konnotation und wirkt nahezu unaussprechlich, während sich die strukturellen sowie individuellen Folgen von Rassismus täglich summieren. Terminologische Ausweichmanöver wie auch der im Jahr 1950 von der UNESCO vorgeschlagene Begriff ethnische Herkunft (oft auch Ethnizität oder Ethnie) bergen die Gefahr, die sachliche Härte und das alltägliche Leid, das die Strukturkategorie Rasse hervorruft, zu verharmlosen.23,24 Auch in der Schreibweise des Begriffs Rasse gibt es keine allgemeine Einigkeit. Die meisten kritischen und antirassistischen Auseinandersetzungen im deutschsprachigen Raum setzen den Begriff Rasse in Anführungszeichen, um die Problematik und Distanzierung zu dem Begriff zu verdeutlichen.25 Der besseren Darstellbarkeit halber schreiben wir den Begriff in kursiv. 

Eine mittlerweile recht weit verbreitete Alternative bzw. Ergänzung ist der Begriff race. Als deskriptive statistische Variable wird race in historisch rassistischen Regimen wie Südafrika und den USA bereits seit vielen Jahrzehnten in epidemiologischen Analysen zur Identifikation gesellschaftlicher Unterschiede rassifizierter Bevölkerungsgruppen (sogenanntes Equality Monitoring) erfasst. Somit gewann race gegenüber dem deutschen Begriff Rasse einen haltbareren sozialen, kulturellen und politischen Bedeutungsgehalt und wird auch heute häufig in postkolonialen und Critical Race Studies verwendet. Ein grundlegendes Dilemma ergibt sich allerdings bereits bei der Art der Datenerhebung zu race. Generell wird zwischen Fremdkategorisierung und freiwilliger anonymer Selbstauskunft unterschieden. In statistischen Analysen bezüglich der Diskriminierungsmessung werden in Deutschland Personen meist durch das vermeintlich objektive Konzept der „Person mit Migrationshintergrund“, bei dem ausschließlich die Staatsangehörigkeit und der Geburtsort zum Tragen kommen, fremdkategorisiert, andere Daten werden nicht erhoben.26 Dieses Konzept wird von der UN und Europäischen Institutionen, sowie NGOs als nicht geeignet betrachtet und wird auch von der deutschen amtlichen Statistik stark kritisiert. So veröffentlichte auch die Fachstelle für Demokratie der Stadt München im Jahr 2023 eine Empfehlung zur Abkehr von dem Begriff.

Ein paar wichtige Begriffe sind in folgender Tabelle aufgeführt. Die Verwendung dieser insbesondere auch im medizinischen Kontext (egal, ob in Klinik, Forschung oder Lehre) kann zum einen für von Rassismus betroffene Personen Sichtbarkeit und Anerkennung bieten, stellt zum anderen aber auch ein wichtiger Schritt in der Dekonstruktion der biomedizinischen Deutungshoheit über Rasse und race dar.

BegriffErklärung
raceRace stellt nicht eine Übersetzung des deutschsprachigen Rassebegriffs dar, sondern umfasst vielmehr eine sozialwissenschaftliche Analysekategorie, die politische, soziale und kulturelle Konstruktionen vom Weiß- und Nichtweißsein beschreibt. Das Konzept von race stellt damit nicht nur eine Abkehr von der biologistischen Vorstellung von Menschenrassen dar, ist zugleich also auch mit den politischen und selbstbestimmten Befreiungskämpfen von Rassismus betroffenen Personen verbunden, allen voran Schwarzer Menschen in den USA. 
BIPoC/PoCBIPoC ist die Abkürzung von Black, Indigenous, People of Color (PoC). All diese Begriffe sind politische Selbstbezeichnungen, da sie aus einem Widerstand entstanden sind und bis heute für die Kämpfe gegen Unterdrückung und für mehr Gleichberechtigung stehen.
Schwarz 
und schwarz
Zur Verwendung und Schreibweise von Schwarz und “schwarz” lässt sich folgendes Sagen. „Schwarze Menschen“ ist eine Selbstbezeichnung und beschreibt eine von Rassismus betroffene gesellschaftliche Position. “Schwarz wird großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt und keine reelle Eigenschaft, die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist. So bedeutet Schwarz-Sein in diesem Kontext nicht, einer tatsächlichen oder angenommenen ‘ethnischen Gruppe’ zugeordnet zu werden, sondern ist auch mit der gemeinsamen Rassismuserfahrung verbunden, auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen zu werden.“27 In diesem Text wird stellenweise eine von der Selbstbezeichnung Schwarz differierende Schreibweise gewählt. Immer wenn sich der Begriff explizit auf die dichotome subjektive Fremdkategorisierung in der Medizin bezieht, wird “schwarz” kleingeschrieben und in Anführungszeichen gesetzt, um die Problematik, Willkürlichkeit und damit einhergehende Machtstruktur hervorzuheben.





  1. Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. München, 2005, S. 38 f. 
  2. Vgl. Gustaf von Dickhut-Harrach: Im Felde unbesiegt, J. F. Lehmanns Verlag, München, 1921.
  3. Ernst Piper, München 2005. S. 39 ff.
  4. Vgl. Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt am Main, 1988. 
  5. Karl Porges: Das Schulbuch Biologie als Spiegelbild historischer Rassentheorien und akademischer Rassismuskritik. In: Uwe Hoßfeld, Deutsche Gesellschaft für Geschichte und Theorie der Biologie (Hrsg.) Annals of the History and Philosophy of Biology 26/2021, S. 56. 
  6. Vgl. Jürgen Peter: Der Einbruch der Rassenhygiene in die Medizin. Die Auswirkung rassenhygienischen Denkens auf Denkkollektive und medizinische Fachgebiete von 1918 bis 1934. Mabuse-Verlag Vol. 70, Frankfurt am Main 2004.
  7. Vgl. Sigrid Stöckel (Hrsg.): Die „rechte Nation“ und ihr Verleger. Politik und Popularisierung im J. F. Lehmanns Verlag 1890–1979. München, 2002.
  8. https://www.lehmanns.de/page/lmueberuns, aufgerufen am 05.06.2024
  9. Yu N, Chen FC, Ota S, et al. Larger genetic differences within Africans than between Africans and Eurasians. Genetics. 2002;161(1):269-274.
  10. Vgl. Tino Plümecke: Rasse in Der Ära Der Genetik. Die Ordnung Des Menschen in Den Lebenswissenschaften. Transcript Verlag, 2014.
  11. Ruth Siasny: Vom Rassismus zur “Rasse” – von der “Rasse” zum Rassismus. Hg. 1998 In: AG gegen Rassenkunde. Deine Knochen – Deine Wirklichkeit. Texte gegen rassistische und sexistische Kontinuität in der Humanbiologie. S. 32- 48. 
  12. Vgl. Lorena Wanger, Hannah Kilgenstein und Julius Poppel: Über Rassismus in der Medizin – ein Essay, München, 2020. Aufrufbar unter: https://kritischemedizinmuenchen.de/ueber-rassismus-in-der-medizin/
  13. American Heart Association. Racial disparities continue for black women seeking heart health care. Med Xpress. 2019;2005(April):2019-2020. https://medicalxpress.com/news/2019-04-racial-disparities-black-women-heart.html
  14. Knight M, Bunch K, Kenyon S, Tuffnell D, Kurinczuk JJ. A national population-based cohort study to investigate inequalities in maternal mortality in the United Kingdom, 2009-17. Paediatr Perinat Epidemiol. 2020;34(4):392-398. doi:10.1111/ppe.12640
  15. Paradies Y, Ben J, Denson N, et al. Racism as a determinant of health: A systematic review and meta-analysis. PLoS One. 2015;10(9):1-48. doi:10.1371/journal.pone.0138511
  16. https://www.nejm.org/race-and-medicine, aufgerufen am 30.06.2024 
  17. The Lancet: Series on racism, xenophobia, discrimination, and health. Volume 400, Number 10368. p2007-2154, e13. Dec 10, 2022.
  18. Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (2023): Rassismus und seine Symptome. Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors. Berlin. 
  19. Herwig Czech et al.: The Lancet Commission on medicine, Nazism, and the Holocaust: historical evidence, implications for today, teaching for tomorrow. Lancet (London, England) vol. 402,10415 (2023): 1867-1940. doi:10.1016/S0140-6736(23)01845-7
  20. Velvl Greene: Can scientists use information derived from the concentration camps? Ancient answers to new questions, in: Caplan, Arthur (Hg.): When medicine went wrong. Bioethics and the Holocaust, New York: Springer 1992, 155-70
  21. http://www.ippnw-nuernberg.de/aktivitaet2_3.html, aufgerufen am 30.06.2024
  22. https://www.wma.net/policies-post/wma-declaration-of-helsinki-ethical-principles-for-medical-research-involving-human-subjects/, aufgerufen am 30.06.2024 
  23. Unesco: The Race Question. Unesco its Program. 1950. doi:10.2307/3025008
  24. Cengiz Barskanmaz: Rasse - Unwort des Antidiskriminierungsrechts? in Kritische Justiz 3/2011, 382-389
  25. Vgl. Franziska Maetzky: Gemachte Differenz. Kontinuitäten biologischer „Rasse“-Konzepte. In: AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften, 2009. 
  26. Albert Scherr und Aladin El-mafaalani: Handbuch Diskriminierung. Springer Verlag. Wiesbaden, 2016.
  27. Jamie Schearer und Hadija Haruna (ISD): Über Schwarze Menschen in Deutschland berichten. Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Blogbeitrag 2013.





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