Immer wieder begegnen wir auf unserem medizinhistorischen Rundgang durch München der Frage nach der Wissenschaftlichkeit medizinischer Forschung unter der
nationalsozialistischen Diktatur. Dabei werden verschiedene ethische Probleme apparent, die wir im folgenden Exkurs kurz anreißen. Wie wir im Kontext des J. F. Lehmann Verlags zeigen konnten, spielte die biomedizinische Forschung eine eklatante Rolle in der Legitimierung der nationalsozialistischen Ideologie. Anschauungskurse, Fach- und Laienliteratur sowie genealogische Beratungen festigten rassistische Vorstellungen in der Gesellschaft und lieferten konkrete Handlungsempfehlungen für die antisemitische Vernichtungspolitik der NS-Diktatur. Dabei wäre die Interpretation dieses Umstandes als eine reine politische Instrumentalisierung jedoch viel zu kurz gegriffen. Vielmehr spiegelt sich darin die gesellschaftspolitische Prägung der Wissenschaft.
Der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984) stellt in seiner Wissenschaftskritik den objektiven Anspruch und Schein moderner Wissenschaft grundsätzlich in Frage. In seinen Arbeiten hinterfragt Foucault Machtstrukturen und Diskurse, die das Wissen und die wissenschaftlichen Praktiken prägen. Er betont, dass Wissen nicht neutral oder objektiv ist, sondern durch gesellschaftliche Machtverhältnisse und historische Bedingungen geformt wird. Dabei analysiert er, wie bestimmte Wissensformen zur Kontrolle und Disziplinierung von Individuen und Gesellschaften beitragen. Sein Ansatz zeigt, dass Wissenschaft und Wissen eng mit Macht verbunden sind und dass diese Beziehung kritisch untersucht werden muss. Ein Umstand der sich in der gegenseitigen Beeinflussung medizinischer Praxis sowie Forschung und nationalsozialistischer Politik äußert.
Auch wenn dieser wissenschaftskritische Ansatz zu einer historischen Einordnung der Forschungstätigkeit von Ärzt*innen zur NS-Zeit führt, so stellt sich dennoch die schwierige Frage des Umgangs mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die sich aus den Menschenrechts verletzenden und grauenhaften Humanexperimenten ergeben. Dabei wird es keine eindeutige Lösung geben können, dennoch sollte klar sein, dass eine anhaltende Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Medizin im Sinne der Aufarbeitungs- und Erinnerungspolitik notwendig ist. Häufig wird in diesem Kontext der heutige Nutzen für die angewandte Medizin als ethischer oder moralischer Maßstab angewandt. Der israelische Wissenschaftlicher Velvl Greene (1928-2011) äußerte sich zu der Frage wie folgt:
„We might never fully understand "why" and "how," but at least we can remember "what." That is what the victims and their survivors asked. We should also remember our colleagues who did it and our close cultural and professional affinity to them.”20Darüber hinaus führte die Aufarbeitung der im Rahmen der NS-Diktatur durchgeführten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Etablierung medizinethischer Standards für die Durchführung von Experimenten an Menschen sowie für die ärztliche Rolle im Allgemeinen. Als ein Ergebnis des Nürnberger Ärzteprozess von 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947, bei dem 23 Personen für ihr Mitwirken bei der Organisation und Durchführung von Menschenversuchen und Krankenmorde angeklagt und zum Teil verurteilt wurden, entstand der sogenannte
Nürnberger Kodex. Dieser stellt eine medizinethische Richtlinie für die Planung und Durchführung von Experimenten an bzw. mit Menschen dar. Nachdem der Kodex als Teil der Urteilsverkündung des Nürnberger Ärzteprozesses verlesen wurde, galt dieser lange Zeit als ethischer Grundsatz in der medizinischen Ausbildung. 1997 erfolgte eine Anpassung. Die aktuelle Version findet sich
hier.
21 Außerdem wurde vom Weltärztebund 1964 in Helsinki die gleichnamige Deklaration zu den Ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen veröffentlicht. Diese
Deklaration von Helsinki wurde mehrfach überarbeitet und gilt in ihrer letzten Revision von 2013 als medizinethische Grundlage ärztlichen Handelns. Die aktuelle Version findet sich
hier.
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Dokumentation über den Nünberger Ärzteprozess | Credit: Chronos Media GmbH