RASSISMUS UND RASSENHYGIENE


Max von Pettenkofer-Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie

Fassade des 1961 bezogenen Institutsgebäudes | Credit: Eigenaufnahme



Im Namen Pettenkofers


Das Institut für Hygiene wurde nach der Gründung 1865 von dem bekannten Hygieniker Max von Pettenkofer (1818-1901) geleitet.1 Erst zum Wiederaufbau nach Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt das Institut jedoch seinen Namen. Die Zeit zwischen Pettenkofers Tod 1901 und der Eröffnung des heutigen Max von Pettenkofer-Instituts im Jahr 1961 war im Wesentlichen von drei Persönlichkeiten geprägt: den Professoren Max von Gruber, Karl Kißkalt und Hermann Eyer. Alle drei versuchten, sich auf unterschiedliche Weise mit Pettenkofers Ruhm und Ruf in Verbindung zu bringen, sich Pettenkofer anzuschließen und gleichzeitig jedoch das Thema Hygiene in ganz eigene Richtungen voranzutreiben. Allen gleich ist dabei, dass sie diesen Weg verfolgten, indem sie die deutsche Rassenhygienebewegung und insbesondere die Rassenhygienik der nationalsozialistischen Ideologie maßgeblich unterstützen.2 Dabei spielten sie und das Institut in den Jahren nach der Jahrhundertwende und über den Verlauf beider Weltkriege eine wichtige Rolle in der universitären Entwicklung der Rassentheorie. Diese Schlüsselrolle in der medizinischen Legitimierung rassistischer Annahmen und deren (pseudo-)wissenschaftliche Erforschung gehen allerdings im heutigen Erbe und in der vom Institut selbst angegebenen Geschichte unter. Was bleibt, ist der Name Pettenkofers, der bereits zur Jahrhundertwende das Image des Instituts positiv prägen sollte.


Büste von Max von Pettenkofer | Credit: Eigenaufnahme
Eingangsschild | Credit: Eigenaufnahme

Max von Gruber und Karl Kißkalt


Ab 1902 leitete Max von Gruber (1853-1927) das Institut für Hygiene. Dabei wurde er zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem der frühesten und prominentesten akademischen Verfechter der Rassenhygiene.3 Der Begriff geht auf den Arzt Alfred Ploetz (1860-1940) zurück, der ihn in seinem Buch Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen von 1895 erstmals als Synonym für Eugenik verwendete.4 Unter dem Begriff der Eugenik entwickelten sich die Annahme und Übertragung humangenetischer Erkenntnisse auf bevölkerungspolitische Zusammenhänge. Dabei setzte sie ursprünglich die sogenannte Aufartung, das heißt die Auslese vermeintlich gesunder Erbanlagen, zum Ziel. Dieses Konzept war die Folge einer seit der späten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich entwickelnde wissenschaftliche sowie sozialpolitische Strömung. Als wichtige Grundlage diente dabei zum einen Arthur de Gonineaus (1816-1882) Schrift Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (Essai sur l’inégalité des races humaines), in der er die Idee der Überlegenheit bestimmter Menschenrassen und die Vorstellung einer arischen Rasse als Herrenrasse propagierte. Zum anderen lieferte Charles Darwins (1809-1882) Evolutionstheorie eine wissenschaftliche Basis, die von Eugenikern zur Rechtfertigung ihrer Maßnahmen herangezogen wurde. Die Einführung des Begriffs der Rassenhygiene durch Alfred Ploetz stellte einen wichtigen Schritt in der Entwicklung solcher aktiven Maßnahmen zur bevölkerungspolitischen Lenkung dar. Zur Umsetzung der rassenhygienischen Bestrebungen wurde zwischen positiver und negativer Eugenik unterschieden. Unter positiver Eugenik wurden Maßnahmen zur vermeintlichen Verbesserung des Erbgutes zum Beispiel die Förderung kinderreicher Familien verstanden, während negative Eugenik die Beseitigung unerwünschten Erbgutes aus dem Genpool einer Bevölkerung verfolgte. Im Kontext dieser europaweiten Entwicklungen ist auch die Integration der Rassenhygiene in die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus zu sehen.5


Rassenkunde im Unterricht 1943 | Credit: Deutsches Historisches Museum



Max von Grubers Auffassung der Rassenhygiene entstand jedoch nicht primär aus einer rein rassistischen Weltanschauung, die eine Hierarchie der angenommenen menschlichen Rassen oder erblichen Veranlagungen annahm. Gruber konzentrierte sich stattdessen vielmehr auf vermeintlich erbliche Verhaltensmerkmale wie Alkoholismus oder nicht der Norm entsprechende Sexualität, die er als krankhaft ansah. Seine Forschungsarbeit verfolgte daher unter anderem das Ziel, durch selektive Fortpflanzung krankhaftes Verhalten zu verhindern.

Trotz dieser Haltung spielte Gruber eine wesentliche Rolle in der Etablierung und Unterstützung rassistischer Forschungsprojekte. So organisierte er 1911 unter anderem gemeinsam mit dem Psychiater Ernst Rüdin (1874-1952), der später zu einem der vehementen Unterstützer der brutalen eugenischen und rassistischen Maßnahmen des NS-Staats wurde, eine Sonderausstellung zu Rasse auf dem internationalen Hygienekongress in Dresden. Darüber hinaus versuchte Gruber, eine Verbindung seines Verständnisses von Krankheit zu seinem berühmten Vorgänger herzustellen, indem er behauptete, Pettenkofer habe mit seinen wissenschaftlichen Bemühungen ein “ […] besseres Erbe” verfolgt.6

Abgesehen davon hielt sich Gruber jedoch davor zurück, Pettenkofers Erkenntnisse mit der eigenen Weltanschauung zu vermischen und beschränkte sich darauf, den Namen Pettenkofers in München zu fixieren. Vielmehr verfolgte er eigene Interessen und schuf 1923 den ersten Lehrstuhl für Rassenhygiene. Diesen besetzte er mit Fritz Lenz (1887-1976), der sich zusätzlich zu seiner theoretischen Beschäftigung mit Rassenhygiene zunehmend der Praxis widmete. Denn bereits 1923 wurde am anthropologischen Institut der Universität München ein Beratungsangebot eingerichtet, wo Lenz und ein Anthropologe unentgeltlich die biologische Familiengeschichte der Freiwilligen erforschten. Das Angebot wurde später auf die Eheberatung in Erbschaftsfragen ausgeweitet.7 Moderne Forschung zeigt, dass Gruber durch sein vehementes Eintreten für die Rassenhygienebewegung und vor allem durch die Schaffung der ersten Professur für Lenz, das Münchner Hygieneinstitut zum wissenschaftlichen Epizentrum der frühen deutschen Rassenhygiene machte.

Mit dem Aufschwung der NSDAP zum Ende der 1920er Jahre kam es vermehrt zu Streitigkeiten zwischen Gruber und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern – insbesondere mit Fritz Lenz. Denn dieser, im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten Gruber, zeigte sich früh dem Programm Hitlers und der NSDAP deutlich zugeneigt.8 So veröffentlichte er beispielsweise 1931 eine sehr positive Rezension von Hitlers Mein Kampf, in der er unter anderem sein eigenes radikales Verständnis von der Notwendigkeit der Sterilisation hervorhob: Nicht nur die Sterilisation von „Extremfällen“, wie sie von einigen seiner Kollegen befürwortet wurde, sondern des " […] ganzen minderwertigen Teils der Bevölkerung" wäre als zweckmäßige Maßnahme zur Beeinflussung der erblichen Zusammensetzung des deutschen Volkes denkbar.9 Lenz ging davon aus, dass eine solche Maßnahme 10% der Bevölkerung, das heißt etwas sechs Millionen Menschen, umfassen würde.10 

In Betracht dieser klaren Unterstützung des NS-Programms, erscheint es wenig verwunderlich, dass Lenz im Jahr der Machtergreifung 1933 schnell zur Weiterentwicklung seiner Thesen befördert wurde. Es erfolgte nämlich die sofortige Berufung auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Rassenhygiene an der Berliner Universität sowie an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie für menschliche Vererbung und Rassenhygiene. Von dort aus nahm Lenz auch an verschiedenen Regierungsgremien Teil und sprach sich wiederholt für die Implementierung von Sterilisation, die Legalisierung der “Euthanasie” sowie dem Aufbau von deutschen Kolonien in den besetzten Gebieten Osteuropas aus.11


Antisemitische Propaganda aus “Der Stürmer” ca. 1935 | Credit: Deutsches Historisches Museum



In München hingegen leitete bereits seit dem Tod Grubers 1927 Karl Kißkalt (1875-1962) das Institut für Hygiene. Die frühe und zentrale Rolle des Münchner Instituts in der Entwicklung der Rassenhygiene lässt vermuten, dass auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933, diese Beteiligung anhalten oder sogar zunehmen würde. Auch vor der Biografie Kißkalts schien diese Entwicklung zwangsläufig. Der in Würzburg geborene und approbierte Arzt und Hygieniker unterstütze bereits 1933 die SS finanziell und trat 1937 der NSDAP bei.12 Und auch er versuchte wie sein Vorgänger eine geistige Linie zwischen Pettenkofers Entdeckungen und seinen eignen rassehygienischen Überzeugungen zu ziehen. So versuchte er die Etablierung der Hygienik durch Pettenkofer als Grundlage für das nationalsozialistische Verständnis von Krankheit und der daraus entstehenden Forderung nach rassenhygienischen Maßnahmen zu beschreiben.13

Doch trotz dieser Vorgeschichte, verlagerte sich das Zentrum der Rassenhygienebewegung mit der neuen Professur von Fritz Lenz nach Berlin und wurde somit gewissermaßen aus dem Münchner Portfolio entfernt. In München selbst wurde das Thema von dem Eugeniker und Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Psychiatrie Ernst Rüdin (1847-1952) übernommen. Kißkalt schien hier auch keine großen Einwände zu haben und widmete sich vielmehr der zunehmenden Debatte innerhalb der Hygieneforschung, um das Paradigma der Bakteriologie und fand so immer wieder zurück zu Pettenkofer. Bis zur Zerstörung des Institutes durch einen Bombenangriff der Alliierten im Sommer 1944, arbeitete Kißkalt größtenteils thematisch isoliert von seinen Mitarbeitenden – die zu einem nicht unbedeutenden Teil im Verlauf der Kriegsjahre an die Front oder anderweitig in den Kriegsdienst abgezogen wurden. Die Beteiligung seiner Mitarbeitenden am NS-Programm, sei es Rassenhygiene, Eugenik, Medikamentenversuche oder Dergleichen, kümmerte ihn dabei scheinbar wenig. Zumindest gibt es keine Hinweise dafür, dass Kißkalt in irgendeiner Art und Weise einschritt. Im Vergleich zu den Vorkriegsjahren und seinem Vorgänger Max von Gruber spielte Kißkalts Arbeit also eine weniger bedeutende Rolle in der Ausarbeitung der nationalsozialistischen Rassentheorien. Dennoch führte er die Marketingstrategie Grubers fort und verstand sich in einer Traditionslinie zu Pettenkofer. 

Nach der Niederlage Deutschlands wurde Kißkalt 1946 aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP durch die Militärverwaltung seines Amtes behoben, bereits 1948 jedoch wieder einberufen. Das Institut wurde übergangsweise in den Räumlichkeiten der Münchner Anatomischen Anstalt untergebracht. Im Jahr 1957 übernahm Hermann Eyer (1906-1997) den Lehrstuhl für Hygiene.


Hygiene-Institut der Waffen-SS, Abt. für Fleckfieber- und Virusforschung, Block 50. | Credit: Musée de la Résistance et de la Déportation, Besançon



Hermann Eyer


Der in Mannheim geborene Hygieniker Eyer hatte eine maßgebliche Rolle in der Vorbeugung des Typhusfiebers im besetzten Polen während des Zweiten Weltkrieges gehabt. So unterstützte er die Forschung an Inhaftierten des KZ Buchenwald in seiner Rolle als Leiter des Instituts für Fleckfieber- und Virusforschung des Oberkommando des Heeres in Krakau von 1939 bis 1944. Er ließ ab April 1940 einen Impfstoff nach Weigl (Läuseimpfstoff) zur Fleckfieber-Immunisierung an dem von ihm geführten Institut herstellen und in Vergleichsstudien an Häftlingen des KZ Buchenwald erproben.14 Thomas Werther arbeitete in seiner Dissertation Eyers erbiologische Annahmen für die Fleckfieber-Epidemien im besetzten Polen heraus: 

„Diesen medizinischen Rassismus übertrug er [Hermann Eyer] auch auf die Infektionswege: die Infektionsgefahr ging von den ‘verlausten und schmutzstarrenden Quartieren fleckfieberkranker Juden in Innerpolen’ aus. Als einer der ersten forderte er zu Beginn des Jahres 1940 die ‘Abriegelung aller endemischen Herde’, die ‘Isolierung der jüdischen Ghettos’, die ‘Unterbindung jeglicher Bevölkerungsverschiebungen’ und ‘Massenentlausungen’ derjenigen, die im ‘Schafspelz des wasserscheuen abessinischen Hochländers’ und unter dem ‘Kozuch des polnischen Kätners’ oder dem ‘Kaftan des Ghettojuden’ daherkämen.“15


Fleckfieber-Impfstoff der Waffen-SS im KZ Buchenwald | Gedenkstätte Buchenwald


Nach Kriegsende verbrachte Eyer eine kurze Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, um dann 1946 zuerst den Lehrstuhl in Bonn zu übernehmen und wie bereits erwähnt im Jahr 1957 den Ruf nach München zu folgen. Gerade wie der Institutsgründer Max von Pettenkofer von Gruber und Kisskalt zur Unterstützung ihrer partikularen, ja ideologisierten Forschungsinteressen instrumentalisiert wurde, nutzte Eyer nun auch Pettenkofer, um die eigenen Verbrechen und die des NS-Staats zu verschleiern.16 So Bezog sich Eyer nachweißlich mehrfach auf die wissenschaftliche und historische Tradition des Instituts in Verhandlung mit der bayerischen Staatsregierung sowohl in den Gesprächen um seine Berufung als Institutsdirektor als auch in Verhandlungen über den anstehenden Neubau. Dieser Neubau wurde genehmigt und 1961 vollendet und das Institut auf Anweisung von Eyer unter dem neuen Namen Max von Pettenkofer-Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie eröffnet. Obwohl es bis zu EyersTod immer wieder zu Gerichtsverhandlungen aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit kam, erfolgte nie eine Verurteilung. Eyer gab nie zu, an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt gewesen zu sein, und reflektierte auch nicht kritisch über sein Handeln während des NS. Stattdessen stellte er sich selbst als Retter tausender Menschenleben sowie als Opfer von Verleumdung durch seine ehemaligen polnischen Mitarbeitenden dar.17 Im Laufe seiner Nachkriegskarriere erhielt er die bayerische Staatsmedaille für soziale Dienste sowie das Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Er verstarb 1997 in München.


Liste der ehamligen Institusleiter | Credit: Eigenaufnahme



Das Vermächtnis eines Namens


Bis heute schmückt der Name Pettenkofers das Institut und seine Website. Die Büsten der drei Direktoren kurz vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus Max von Gruber, Karl Kißkalt und Hermann Eyer stehen im Treppenhaus des Gebäudes. Deren Geschichte, deren Beteiligung an der pseudowissenschaftlichen Legitimierung der Rassentheorie und Eugenik sowie die aktive Teilnahme an Menschenversuchen, bleiben unerwähnt. Damals wie heute ist die so prominente Darstellung Pettenkofers Erbe im Institut als Versuch zu verstehen an eine Zeit anknüpfen, in der die Hygiene noch unbelastet von rassistischen Theorien und unmenschlichen Praktiken war und ein Unwillen sich mit der gesamten Geschichte des Instituts auseinanderzusetzen.  


 

Das Konzentrationslager (KZ) Dachau wurde am 22. März 1933 wenige Zeit nach Hitlers Machtübernahme errichtet und war das erste dauerhafte KZ der Nationalsozialisten. Es diente dabei als Modell für das gesamte NS-Lagersystem und existierte durchgehend bis zur Befreiung durch US-Truppen am 29. April 1945. Neben der grauenhaften und menschenverachtenden Inhaftierung, Degradierung und Ermordung politischer Gegner*innen, Juden*Jüdinnen und anderer verfolgter Gruppen, diente es zudem auch als Ausbildungsstätte für KZ-Wachmannschaften und SS-Führer. Auch wenn das KZ Dachau kein Vernichtungslager war, wurden dennoch in keinem anderen KZ so viele politische Morde verübt wie in Dachau.18Von den ca. 200.000 Inhaftierten starben mindestens 41.500 Menschen.19

Teile des Lagers wurden immer wieder aus propagandistischen Zwecken durch Fotographien oder Führungen zur Schau gestellt. So auch das Krankenrevier. Dies diente als eine Art Krankenhaus und befand sich ursprünglich in den ersten beiden Funktionsbaracken rechts der Lagerstraße. Diese Baracken waren modern und hochwertig ausgestattet und verfügten über zwei Operationssäle, eine Apotheke, ein Labor und verschiedene Ambulanzen. In Wirklichkeit jedoch litten die kranken Häftlinge unter katastrophalen Bedingungen. Die SS-Ärzte kümmerten sich kaum um die Patient*innen, und es herrschte ein eklatanter Mangel an Medikamenten und Verbandsmaterial. Erst ab 1943 durften Häftlinge, die selbst Ärzte waren, andere kranke Häftlinge versorgen. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Häftlinge zunehmend. Unterernährung, mangelnde Hygiene und körperliche Entkräftung führten zu einem desolaten Gesundheitszustand. Daher wurde das Krankenrevier nach und nach um fünf Baracken erweitert und umfasste schließlich sieben Revierblöcke, die durch einen überdachten Gang miteinander verbunden waren. Durch die rapide Ausbreitung von Infektionskrankheiten, besonders gegen Ende des Krieges, entwickelte sich das Krankenrevier zu einem Ort des Sterbens.20


Blick auf das ehamlige Krankenrevier in der Gedenkstätte KZ Dachau | Credit: Gedenktstätte KZ Dachau



Ab 1941 führten SS-Ärzte im KZ Dachau medizinische Experimente an Häftlingen durch. Im Auftrag der Luftwaffe fanden unter ihrer Leitung Unterkühlungs-, Höhen- und Meerwasserversuche statt. Gefangene wurden in einem Wasserbecken lebensbedrohlich unterkühlt, in einer Unterdruckkammer extremen Druckschwankungen ausgesetzt und gezwungen, chemisch behandeltes Salzwasser zu trinken. Andere wurden mit Malariaerregern und Phlegmone infiziert, um Medikamente zu erproben. Hunderte von Menschen starben dabei.21

Sigmund Rascher bei einem Experiment im KZ Dachau | Credit: Gedenkstätte KZ Dachau

Besonders hervor tat sich dabei der Arzt Sigmund Rascher (1909-1945), der aufgrund seiner familiären Geschichte und der Grausamkeit seiner Verbrechen in der Nachkriegszeit als Inbegriff des sadistischen und kaltherzigen NS-Täters galt. Einen ähnlichen Ruf wurde beispielsweise auch dem KZ-Arzt Josef Mengele (1911-1979) zugesprochen, der im KZ Auschwitz-Birkenau ebenfalls Menschenversuche und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübte.22 Doch ein Anliegen dieses Rundgangs ist es mit der teils voyeuristisch anmutenden Auseinandersetzung mit solchen Einzelpersonen zu brechen. Auch wenn sich gewisse Täter im Übermaß durch grauenhafte Verbrechen einen Ruf machten, so wollen wir bewusst eine Individualisierung der Verantwortung vermeiden. Stattdessen ist es auch hier wichtig zu betonen, dass hinter den medizinischen Unrechtsverbrechen und Menschenversuchen eine über Jahre hinweg etablierte Systematik stand. An der Umsetzung von Menschenversuchen in den KZs waren etliche Personen auf verschiedensten Ebenen beteiligt. Insbesondere die Möglichkeit beziehungsweise der Wunsch nach der Durchführung von Versuchen an Menschen waren keine Idee der Nationalsozialisten, sondern es wurden bereits seit der Jahrhundertwende an Strafgefangene oder Menschen in Heilanstalten medizinische Experimente durchgeführt. In Deutschland hatte sich allerdings kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein gesellschaftliches und auch politisches Umdenken bezüglich der Versuche an Menschen abgezeichnet. Nach dem Lübecker Impfunglück 1930, bei dem 77 Säuglinge an den Folgen einer fehlerhaften Tuberkulose-Impfung verstarben, hatte der Reichsgesundheitsrat im Jahr 1931 eine Richtlinie zur Vornahme medizinischer Versuche verabschiedet. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde diese Richtlinie jedoch verworfen.23 Verfolgt man die entmenschlichende Logik der NS-Ideologie, so erscheint der Gedanke von Menschenversuchen in den Lagern leider wenig verwunderlich. Wie wir bereits auch am Anatomischen Institut zeigen werden, degradierten NS-Mediziner bestimmte Menschengruppen zu Untersuchungs- und Arbeitsmaterial. Der Arzt Rascher schlug 1941 in einem Schreiben an Heinrich Himmler vor, Inhaftierte der Lager für Menschenversuche zu nutzen und ebnete damit den Weg für eine Vielzahl anderer: 

„Zurzeit bin ich nach München zum Luftgaukommando VII kommandiert für einen ärztlichen Auswahlkurs. Während dieses Kurses, bei dem die Höhenforschung eine sehr große Rolle spielt, – bedingt durch die etwas größere Gipfelhöhe der englischen Jagdflugzeuge – wurde mit großem Bedauern erwähnt, daß leider noch keinerlei Versuche mit Menschenmaterial bei uns angestellt werden konnten, da die Versuche sehr gefährlich sind und sich freiwillig keiner dazu hergibt. Ich stelle darum ernsthaft die Frage: besteht die Möglichkeit, daß zwei oder drei Berufsverbrecher zu diesen Versuchen von Ihnen zur Verfügung gestellt werden können? […] Diese Versuche, bei denen selbstverständlich die Versuchspersonen sterben können, würden unter meiner Mitarbeit vor sich gehen.“24
Himmler willigte ein und so wurden ab 1941 im KZ Dachau und anderen Lagern verschiedene Menschenversuche durch NS-Ärzte durchgeführt. Diese waren auch Gegenstand der Nürnberger Ärzteprozesse, bei denen allerdings wenige der Angeklagten Reue zeigte. So sagte der KZ-Arzt Karl Gebhardt (1897-1948) 1947 in Bezug auf seine Durchführung von Sulfonamid-Experimenten sowie Meerwasserversuchen: „So hat mir, wie ich mich bemühte zu zeigen, das Dritte Reich […] auf ärztlichem Gebiete eine große Chance gegeben. Ich habe die Chance genutzt.“25

Schätzungsweise waren über 3.000 Menschen direkte Opfer dieser verschiedenen Versuche. Die Dunkelziffer wird jedoch als weitaus mehr geschätzt. Das Ausmaß der Experimente wurde bereits im Ende der 1940er Jahre im Rahmen des Ärzteprozesses in Nürnberg durch die International Scientific Commission for the Investigation of Medical War Crimes untersucht.26 Letztendlich wurden im Rahmen des Nürnberger Ärzteprozesses insgesamt 23 Personen angeklagt, darunter 20 Ärzte. Sieben Angeklagte wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet, neun mussten unterschiedlich lange Haftstrafen antreten, während die restlichen sieben freigesprochen wurden.27 Eine viel größer Anzahl an Beteiligten konnte jedoch ungehindert nach der Niederlage Deutschlands ihre Forschungs- und Kliniktätigkeit wiederaufnehmen.  



 
  1. Vgl. Nadine Yvonne Meyer: Das Hygieneinstitut der Ludwig-Maximilians-Universität München unter Max von Pettenkofer als internationale Ausbildungs- und Forschungsstätte. Dissertation, LMU München, 2016. 
  2. Mathias Schütz: After Pettenkofer. Munich's Institute of Hygiene and the long shadow of National Socialism, 1894-1974. International journal of medical microbiology: IJMM vol. 310,5, 2020.  
  3. Ojan Assadian, Manfred Rotter, Gerold Stanek: Max von Gruber, 1853–1927. In: Wien. Klin. Wochenschr. 122, 115–119, 2010.
  4. Vgl. Alfred Ploetz: Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus. Grundlinien einer Rassen-Hygiene, 1. Theil. Fischer, Berlin 1895.
  5. Hans-Walter Schmuhl: Sterilisation, „Euthanasie“, „Endlösung“. Erbgesundheitspolitik unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft. In: Norbert Frei (Hrsg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit. R. Oldenbourg Verlag, München 1991, S. 295–308.
  6. Max von Gruber: Max von Pettenkofer. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschft 36, 1903. S. 4547.
  7. Vgl. Mathias Schütz, 2020.
  8. Fridolf Küdlin: Max v. Gruber und die frühe Hitlerbewegung. Medizinhistorisches Journal 17, 1982. S. 373–389.
  9. Fritz Lenz: Die Stellung des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene. Arch. Rassen Gesell. Biol. 25, 1931. S. 304.
  10. Hans-Walter Schmuhl: The Kaiser Wilhelm Institute for Anthropology, Human Heredity, and Eugenics, 1927–1945. Crossing Boundaries. Dordrecht, 2008. S. 107.
  11. Sabine Schleiermacher: Grenzüberschreitungen der Medizin: Vererbungswissenschaft, Rassenhygiene und Geomedizin an der Charité im Nationalsozialismus. In: Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus. Paderborn, 2008. S. 169–188.
  12. Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main, 2007. S. 311.
  13. Karl Kisskalt: Pettenkofer und die Hygiene. Das Bayerland 44, 1933. S. 634–638.
  14. Thomas Werther: Fleckfieberforschung im Deutschen Reich 1914–1945. Untersuchungen zur Beziehung zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik unter besonderer Berücksichtigung der IG Farben. Inauguraldissertation an der Philipps-Universität Marburg. Wiesbaden 2004, S. 44f, 51.
  15. Hermann Eyer: Die durch Läuse übertragbaren Infektionskrankheiten und ihre Bekämpfung, in: Medizinische Welt 11, 1940, S. 261–264. Zitiert bei: Thomas Werther: Fleckfieberforschung im Deutschen Reich 1914–1945. Untersuchungen zur Beziehung zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik unter besonderer Berücksichtigung der IG Farben. Inauguraldissertation an der Philipps-Universität Marburg. Wiesbaden 2004, S. 51f.
  16. Mathias Schütz: Ein Haus für Pettenkofer. Wissenschaftliche Traditionspflege in München 1902–1962. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Vol.: 41/1, 2019. S. 64-82.
  17. Vgl. Schütz, 2020.
  18. Stanislav Zámečník: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager. In: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Band 2. C. H. Beck, München 2005, S. 233f.
  19. Gedenkstätte Dachau, abgerufen unter: https://www.kz-gedenkstaette-dachau.de/historischer-ort/kz-dachau-1933-1945/
  20. Vgl. Wolfgang Benz, Angelika Königseder (Hrsg.): Das Konzentrationslager Dachau. Geschichte und Wirkung nationalsozialistischer Repression. Metropol Verlag, Berlin 2008.
  21. Vgl. Gerhard Baader: Menschenversuche in Konzentrationslagern in Medizin im Dritten Reich. 2. Auflage. Deutscher Ärzte-Verlag. Köln, 1992.
  22. Vgl. Ernst Klee: Personenlexikon zum Dritten Reich – wer war was vor und nach 1945, S. Fischer Verlag. Frankfurt, 2005.  S. 402 und 480.
  23. Vgl. Gerhard Baader, 1992.
  24. Whitney Harris: Tyrannen vor Gericht: das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945–1946. BWV, Berliner Wiss.-Verlag, S. 404.
  25. Vgl. Gudula Walterskirchen: Wie wir unfrei werden: Der Weg in die totalitäre Gesellschaft. Seifert Verlag. Wien, 2022.
  26. Vgl. Stefanie Baumann: Menschenversuche und Wiedergutmachung: Der lange Streit um Entschädigung und Anerkennung der Opfer nationalsozialistischer Humanexperimente. Oldenbourg, 2009.
  27. Wolfgang Eckart: Medizingeschichte – der Nürnberger Ärzteprozess. In: Dtsch Arztebl 2017; 114(33-34): A-1524 / B-1292 / C-1264





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