KINDERMEDIZIN ZUR ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS

Dr. von Haunersches Kinderspital


Alter Eingang der Kinderklinik in der Lindwurmstraße 4 | Credit: Eigenaufnahme



Jüdische Ärzt*innen an der Klinik


Anhand der Geschichte des Dr. von Haunerschen Kinderspitals lassen sich verschiedene Aspekte des Gesundheitssystems unter der NS-Diktatur rekonstruieren. Zum einen wurden bereits sehr früh bestimmte Personengruppen, allen voran Juden*Jüdinnen, systematisch aus den Gesundheitsberufen verdrängt. Dabei stellte für jüdische Ärzt*innen die Kinder- und Jugendmedizin eine gewisse Sonderrolle dar. Dies liegt daran, dass der Anteil jüdischer Ärzt*innen in der Kinderheilkunde Anfang des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu allen anderen Fachdisziplinen am höchsten war. So waren Schätzungen zu Folge im Jahr 1933 fast die Hälfte der Kinderärzt*innen im deutschen Reichsgebiet jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung.1 Bereits sehr früh nach der Machtübertragung auf Hitler, erfuhren diese Menschen staatliche Repressionen. Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 wurden von den Nationalsozialisten verfolgte Personen (Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst) zwangsweise entlassen – allen voran jüdische Personen.2 In einer umfassenden Studie konnte Eduard Seidler zeigen, dass im Jahr 1933 773 jüdische Kinderärzt*innen von den Nationalsozialisten aus rassistischen Gründen verfolgt wurden und ihrer Ämter und Positionen enthoben wurden.3

So auch am Dr. von Haunerschen Kinderspital: Andrea Autenrieth arbeitete in ihrer medizinischen Dissertation das Schicksal verfolgter Angestellte am Dr. von Haunerschen Kinderspital heraus.4 Sie konnte nachweisen, dass mindestens 31 Ärzt*innen Repressionen erfuhren, hauptsächlich jüdische Personen. Der medizinhistorischen Aufarbeitung sind jedoch Grenzen gesetzt, da die Beschäftigungssituation während der NS-Zeit am Dr. von Haunerschen Kinderspital nur schwer nachvollziehbar ist. Ein Großteil der Jahresberichte für die Jahre zwischen 1933 und 1945 fehlen nämlich. Im Jahresbericht von 1932, dem letzten der vorhandenen Jahresberichte, finden sich nur noch zwei jüdische Ärztinnen. Für beide konnte ermittelt werden, dass sie das Dr. von Haunersche Kinderspital noch vor 1933 verließen. Eine Neueinstellung verfolgter Personen wäre ab April 1933 aufgrund des obengenannten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums strafbar gewesen, weshalb es nahe liegt, dass ab 1933 keine Ärzt*innen jüdischer Abstammung im Dr. von Haunerschen Kinderspital tätig waren. 

Die auffallend hohe Repräsentanz jüdischer Ärzt*innen in der Kindermedizin lässt Raum für Spekulationen. Nach Stefanie Harrecker war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts an deutschen Universitäten ein deutlicher Antisemitismus spürbar.5 Es wird daher vermutet, dass jüdische Ärzt*innen in der Kinderheilkunde - eine sich gerade etablierende Fachdisziplin - eine Nische sahen, die noch frei oder zumindest weniger geprägt von diskriminierenden Strukturen war. Zudem bot die Kinderheilkunde mit der Möglichkeit sich in einer Praxis niederzulassen ein außeruniversitäres Betätigungsfeld. Die Kinderheilkunde war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch neu und beschäftigte sich mit der hohen Säuglingssterblichkeit. Diese primär infektiologische Aufgabe war zugleich auch ein wichtiges sozialpädiatrisches Thema, da die Reduktion der Säuglingssterblichkeit eng verknüpft mit dem Ausbau von Neugeborenenstationen und der Etablierung von Hygienestandards in der Säuglingsmedizin war. Dabei finden sich besonders unter den Pionier*innen der Sozialpädiatrie, die mit ihrer Arbeit und Forschung maßgeblich die Entwicklung dieser Disziplin vorangetrieben haben, auffallend viele jüdische Kolleg*innen. Zu nennen ist beispielsweise Arthur Schlossmann, der 1898 die erste Einrichtung für kranke Säuglinge in Dresden gründete oder Heinrich Finkelstein, dem als ärztlichen Direktor des Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses in Berlin eine drastische Senkung der Säuglingssterblichkeitsrate im Arbeiterviertel Wedding zuzuschreiben ist.6 Die Wirkstelle der Sozialpädiater*innen war nicht die Universität, sondern vor allem das Gemeinwesen, wie beispielsweise in Schulen, Kinderstätten und Säuglingsheime, so auch in München. Es stellt sich daher die Frage, was mit der Kinderversorgung passierte, nachdem ein Großteil der jüdischen Ärzt*innen systematisch verfolgt und vertrieben worden war. Obwohl hier bereits einiges an geschichtswissenschaftlicher Aufarbeitung geschehen ist, bedarf es dennoch einer weiteren Auseinandersetzung und Erinnerungskultur in der Medizin. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) bietet ein online Suchportal für die Lebensgeschichte jüdischer Kinderärzt*innen an, das auf den Recherchen Eduard Seidlers beruht.


Boykott jüdischer Ärzt*innen und Rechtsanwält*innen | Credit: Deutsches Ärzteblatt




Im März 1933 verkündet der neu eingesetzte Reichärzteführer Gerhard Wagner: „Es gibt wohl keinen Beruf, der für Größe und Zukunft der Nation so bedeutungsvoll ist wie der ärztliche. (...) Aber keiner ist auch so verjudet wie er und so hoffnungslos in volksfremdes Denken hineingezogen worden.“7 Die Botschaft der organisierten deutschen Ärzteschaft war eindeutig: jüdische Ärzt*innen sind nicht erwünscht. Wenige Wochen nach der Machtübertragung auf Hitler beginnen die ersten Gesetzeserlasse, die die Berufsausübung jüdischer Ärzt*innen systematisch erschwerten und 1938 schließlich vollständig verboten. Ende 1938 waren von den zu Beginn des Jahres 1933 im Deutschen Reich tätigen 8.000 jüdischen Ärzt*innen lediglich ca. 280 als sogenannte Krankenbehandler übrig und ärztlich tätig. 

DatumEreignis
24.03.1933Gleichschaltung der ärztlichen Spitzenverbände mit Dr. Gerhard Wagner als 1. Vorsitzender. Juden*Jüdinnen wurden aufgefordert ihre Ämter in Vorständen und Ausschüssen niederzulegen.
01.04.1933Boykott gegen jüdische Ärzt*innen, Rechtsanwält*innen und Geschäftsleute 
04.04.1933Immatrikulationsverbot für Juden*Jüdinnen für das Medizinstudium an bayerischen Universitäten
07.04.1933Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erfolgte die Entlassung aller Juden*Jüdinnen und politischen Gegner*innen aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst. Als Ausnahme galten Frontkämpfer und vor 1914 verbeamtete Ärzt*innen.
22.04.1933Mit der neuen Verordnung über die Zulassung zur Kassenpraxis wurden die wenige Wochen zuvor erlassenen Regelungen zum Ausschluss verfolgter Ärzt*innen aus öffentlichen Positionen auf den ambulanten und privaten Gesundheitssektor ausgeweitet.
April 1934 Neue Richtlinien für Approbation und Promotion: Anteil von ‚Voll- oder Halbjuden’ darf unter den neu bestallten Ärzten maximal ein Prozent betragen
15.09.1935 Durch das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre wurde unter anderem jüdischen Ärzt*innen verboten arische Helferinnen unter 45 Jahren zu beschäftigen.
13.12.1935Mit Erlass der Reichsärzteordnung, die die Berufszulassung, d. h. die Approbation, mit den Vorschriften des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 verband, wurde die Bezeichnung der Approbation durch Bestallung ersetzt. Dieser Begriff galt bis zum Inkrafttreten der Bundesärzteordnung am 1. Januar 1970.
25.07.1938Mit dem Inkrafttreten der Vierte(n) Verordnung zum Reichsbürgergesetz erloschen die Approbationen aller jüdischen Ärzt*innen in Deutschland. Reichsärzteführer Gerhard Wagner stellte in einer Rede fest: „Diesen jüdischen Verbrechern ist jetzt das Handwerk gelegt.“8


  
Dr. Julius Spanier und Zipora Spanier


Einer dieser Ärzte war Dr. Julius Spanier. Zu seinem 75. Geburtstag erklärte der bei der Feier anwesende Staatssekretär Dr. Meinzolt in seiner Rede, „wenn heute alle diejenigen, die im Leben Gutes von Ihnen erfahren haben und Ihnen Dank wissen, hier versammelt wären und ihre Stimme zu Ihrem Lob erheben würden, dann würde der Chor des Dankes die Wände dieses Hauses sprengen“.9 Mit seinem Tod im Jahr 1959 verlor die Stadt München und vor allem die jüdische Gemeinde Münchens eine bedeutende und prägende Figur. Der Kinder- und Jugendarzt Dr. Julius Spanier war nämlich nicht nur einer der Wegbereiter der modernen Säuglingsmedizin, sondern auch lange Jahre der Präsident der wiedergegründeten Israelitischen Kultusgemeinde.10

 Julius Spanier wurde 1880 in München geboren. Nach seinem Studium der Humanmedizin in München und Berlin, eröffnete er eine Praxis als Kinderarzt in München und war dort tätig, bis er im Rahmen des Ersten Weltkriegs als Sanitätsoffizier an die Front bestellt wurde. Nach seiner Rückkehr nahm er die Arbeit in seiner Praxis sowie als Schularzt wieder auf. 1919 war er Mitbegründer der Münchner Säuglingsvorsorge und auch kurzweilig der Vorsitzende der Münchner Gesellschaft für Kinderheilkunde.11 Nach der Machtübertragung auf Hitler 1933 wurden Spanier aufgrund seiner jüdischen Herkunft alle Ämter entzogen und er durfte sich, wie alle jüdischen Ärzt*innen, nicht mehr offiziell als Arzt bezeichnen. Stattdessen trug er die Berufsbezeichnung Krankenbehandler. Nach den Novemberpogromen 1938 fürchtete er eine Deportation und versteckte sich zunächst im Israelitischen Kranken- und Schwesternheim (Israelitische Privatklinik e. V.), wo er einen Herzinfarkt erlitt. Ein Jahr später übernahm er nach der Emigration des ehemaligen Chefarztes der Klinik Dr. Berthold Weiss die Leitung des Krankenhauses und verlegte seine Wohnung dorthin. Seine Privatpatient*innen konnte er nur noch nachts besuchen, bedürftige Patient*innen behandelte er kostenlos. Zusätzlich wurde er von der SS zur Tätigkeit als Vertrauensarzt beim Einsatz jüdischer Zwangsarbeiter und als Lagerarzt im Sammellager Berg am Laim verpflichtet. 

 Am 4. Juni 1942 erfolgte die Zwangsräumung des Krankenhauses. Zirka 50 Menschen, darunter Dr. Spanier und seine Frau sowie Kranke und Sterbende wurden in Möbelwagen verladen und nach Theresienstadt transportiert. Kurz zuvor wurde Dr. Spanier auf Verfügung des Staatsministeriums des Innern seines gesamten verbliebenen Vermögens enthoben. In Theresienstadt war Spanier bis zum Kriegsende inhaftiert und als Arzt tätig. Er und seine Frau Zippora Spanier überstanden die Inhaftierung im KZ und gehörten zu den wenigen Münchner Juden*Jüdinnen, die den Holocaust überlebten.  Im Sommer 1945 kehrte Julius Spanier, der schwer an Fleckfieber erkrankt war, zurück nach München. Trotz seines Gesundheitszustands wurde Spanier noch im selben Jahr wieder als Arzt sowie als kommissarischer Leiter des Ärztlichen Bezirksvereins München tätig. Er war prägend in dem mühsamen Wiederaufbau der medizinischen Versorgung in München und übernahm 1946 zusätzlich die Leitung der Münchner Säuglingsklinik an der Lachnerstraße in Neuhausen. Die Münchner Schriftstellerin Gerty Spies, die mit ihm nach Theresienstadt deportiert worden war, berichtet von Julius Spanier in ihren Erinnerungen. Dabei erzählt sie zum Beispiel warum Spanier nach der Rückkehr aus Theresienstadt gerade in seine Heimatstadt München zurückkehrte: „ ,Ich habe alles vergessen´, pflegte er leichthin zu sagen. Aber das hab ich ihm nie geglaubt. Der Jude in ihm konnte, durfte und wollte auch nicht vergessen. Aber sein gütiges Herz hatte verziehen, und sein weitblickender Geist war aus dem Erleben über das Erleben emporgewachsen.“12

Auch außerhalb zeigte der Medizin zeigte sich Spanier äußert engagiert und aktiv. Von 1947 bis 1953 war er Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, von 1947 bis 1953 Vorsitzender des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern und ab 1948 Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Außerdem wirkte er in den frühen Nachkriegsjahren – von 1947 bis 1951 – in der bayerischen Politik mit und war Mitglied des Bayerischen Senats. 1958 wurde ihm der Bayerische Verdienstorden verliehen. Julius Spanier starb 1959 in München. Er ist auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München begraben. Am Gebäude der ehemaligen Kinderklinik an der Lachnerstraße 39 erinnert seit 1960 eine Gedenktafel an ihn, diese wurde mit dem Neubau der Kinderklinik Dritter Orden in die Franz-Schrank-Straße verlegt.



Portrait von Dr. Julius Spanier (1880-1959) | Credit: Stadtarchiv München
Gedenktafel im Klinikum Dritter Orden in der Menzinger Straße | Credit: Eigenaufnahme


“Kindereuthanasie” in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar


Ein zweiter, relevanter medizinhistorischer Aspekt des Nationalsozialismus ist die frühe organisierte und aktive Beteiligung der Medizin an rassenhygienischen und rassistischen Bestrebungen. Allen voran steht dabei die Etablierung und Umsetzung der „Euthanasie“, insbesondere der „Kindereuthanasie“ bei deren Verwirklichung die Münchner Kindermedizin keine unbedeutende Rolle spielte. Obwohl die sogenannte Kinderfachabteilung in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar keinen direkten oder strukturellen Bezug zum Dr. von Haunerschen Kinderspital hatte, sollten die nationalsozialistischen Verbrechen der Kindereuthanasie“ zwischen den Jahren 1940 und 1945 in München hier dennoch Erwähnung finden. An der Psychiatrischen Klinik wurde bereits ausführlich das „Euthanasie“-Programm vorgestellt. Die „Kindereuthanasie“ war ein besonders grausamer Aspekt dieser mörderischen Praxis, denn dabei wurde sich speziell auf Kinder und Jugendliche mit körperlichen oder geistigen Behinderungen sowie schweren Erkrankungen konzentrierte. Dieses Programm begann bereits 1939, bevor die Aktion T4 offiziell startete, und zielte auf die systematische Ermordung dieser jungen Menschen ab, die als lebensunwert galten. Kinder wurden in speziellen Kinderfachabteilungen von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen entweder durch Überdosierung von Medikamenten, gezielte Vernachlässigung oder tödliche Injektionen getötet. Diese Morde wurden unter dem Vorwand medizinischer Behandlungen oder vermeintlicher humanitärer Erwägungen verübt, wobei Eltern häufig getäuscht oder unter Druck gesetzt wurden, ihre Zustimmung zu geben.


Zeitgenössische Ansichtskarte mit Luftaufnahme der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar | Credit: Archiv des Bezirks Oberbayern



Die Kinderfachabteilung


Der Einrichtung der ersten Kinderfachabteilungen Ende 1939 gingen einige eugenische Maßnahmen voraus, an deren Umsetzung bedeutende Mediziner*innen der Zeit maßgeblich beteiligt waren. Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses am 14. Juli 1933 wurde die zwangsmäßige Sterilisation sogenannter erbbiologisch Minderwertigerlegalisiert. Vorangetrieben wurde dieser Prozess durch eine medizinisch begründete rassenhygienische Propaganda. So fanden beispielsweise in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar erbbiologische Anschauungskurse mit Demonstrationen von Patient*innen mit Behinderungen statt. Diese wurden dabei als lebensunwert und verwahrlost dargestellt und die Pflege dieser Kranken den Teilnehmer*innen als nutzlos erklärt. Wie bereits am Max-von-Pettenkofer Institut erwähnt, waren die Nationalsozialisten stark an einer quantitativen und qualitativen Bevölkerungspolitik interessiert. Auf der scheinbaren Grundlage biomedizinischer Erkenntnisse, an deren Verbreitung Münchner Persönlichkeiten wie zum Bespiel Ernst Rüdin stark beteiligt waren, wurden verschiedene Ansätze zur Aufartung des deutschen Volkskörpersverfolgt. Neben der Förderung des arischenNachwuchses (pronatalistische Politik) sollte die Anzahl der vom Nationalsozialismus als erbkrank und nicht-arisch definierten Menschen durch Sterilisation oder Tötung verringert werden (antinatalistische Politik). Zu diesem Zweck wurden Gesetze erlassen und Behörden geschaffen, wie zum Beispiel die Erbgesundheitsgerichte oder die Rassenhygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle.13


Ausstellungsbild des Außenpolitischen Amtes zu den „Vorteilen“ der Zwangssterilisation | Credit: Stadt Singen



Im Oktober 1940 wurde in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar die bayernweit erste Kinderfachabteilung eröffnet, wo im Rahmen der „Kindereuthanasie“ 332 Kinder ermordet wurden.14 An den Maßnahmen waren mehrere Ärzte unter der Leitung Hermann Pfannmüllers (1886-1961) beteiligt. Einer der Hauptakteure war der Arzt Gustav Eidam (1908 – 1945), der sich 1945 während der Untersuchungshaft erhängte. Der Psychiater Gerhard Scmidt (1904 – 1991) hatte Mitte der 60er Jahre eine ausführliche Studie zu den Tötungen in Eglfing-Haar veröffentlicht. Darin konnte er zeigen, dass sowohl in der Anstalt selbst Kinder ermordet wurden als auch ein Sammeltransport von Kindern nach Kaufbeuren stattgefunden hat.15 Etwa 20 Prozent der Kinder in der Kinderfachabteilung stammten aus München, viele von ihnen hatte zuvor mehrere Krankenhausaufenthalte in München, unter anderem auch am Dr. von Haunerschen Kinderspital hinter sich. Folgendes Beispiel des 2-jährigen Gerhard verdeutlicht die empathielose ärztliche Perspektive in der Heil- und Pflegeanstalt. Der Junge wurde im Sommer 1942 in Eglfing-Haar eingewiesen. Folgende Erklärung wurde dem Vater Gerhards, auf dessen Nachfrage zugesandt:  

„Sehr geehrter Herr G. […] Es wurde bei dem Kleinen alles durchuntersucht und es stellten sich starke Vergrösserungen [sic!] der Hirnhöhlen (Hydrocephalus internus) dar. Wodurch diese Krankheit entstanden ist, lässt sich nicht feststellen. Meistens ist dieser Zustand schon von Geburt an vorhanden und verstärkt sich im Laufe der Zeit. Eine Erbkrankeit liegt jedoch nicht vor. Es fällt daher nicht unter das Sterilisationsgesetz. Eine Aussicht auf Besserung des Zustands ist sehr unwahrscheinlich, auch eine Hirnoperation würde zu keinem Erfolg führen. Wir haben daher der Mutter geraten, das Kind, da häusliche Pflege ziemlich unmöglich ist, in eine Anstalt zu geben. Wir haben veranlasst, dass der Junge in der Pflegeanstalt München-Haar untergebracht wird. Heil Hitler! Assistenzärztin.”16
In den Krankenakten von Gerhard finden sich keine Einträge zu Behandlungsversuchen, lediglich folgender Untersuchungsbefund: „Das Kind fixiert nicht, ist außerordentlich unruhig, schreit viel. Ist sehr unrein. Kann nicht sitzen u. nicht stehen. Wird es aufgestellt, so stemmt es die Beine gegen die Unterlage.“17 Anfang Oktober trifft das Ermächtigungsschreiben aus Berlin in Eglfing-Haar ein, Gerhard erhält Luminal. Er verstirbt am 10. Oktober 1942 im Alter von zwei Jahren an einer Lungenentzündung.18 Aus Sicht der behandelnden Ärzte, allen voran des Anstaltsleiters Pfannmüller, war das Leben Gerhards wertlos. Sie entschieden über sein Leben und Tod. Wurden Kinder hingegen als verwertbar eingestuft, bestand durchaus die Möglichkeit die Kinderfachabteilung zu überleben. Vor allem ältere Jugendliche, die als arbeitsfähig eingestuft wurden, konnten so der „Euthanasie“ entkommen. Wie am Beispiel von Gerhard deutlich wird, war ein Aufenthalt in der Kinderfachabteilung nicht zur Therapie oder Leidensminderung gedacht. Neben der Selektion und Tötung stellten die Kinder und Jugendliche auch Versuchs- und Studienobjekte für die Mediziner dar. So wurden z. B. sogenannte Pneumoencephalographien durchgeführt, bei denen den Kindern mittels Punktion Rückenmarksflüssigkeit entnommen und an dessen Stelle Luft in den Rückenmarkskanal gegeben wurde. Im Anschluss wurde der Schädel mittels Röntgenbild dargestellt. Die Ärzte erhofften sich so, Ursachen der Leiden zu erkennen und insbesondere zwischen erblichen und nicht-erblichen Erkrankungen zu unterscheiden.19 Es ist mittlerweile nachgewiesen worden, dass die Neuropathologische Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie posthum entnommene Gehirne ermordeter Kinder aus Eglfing-Haar zu Forschungszwecken erhielt.


Der Täter Hermann Pfannmüller


Prägend in München war dabei zum Beispiel der Psychiater und Neurologe Hermann Pfannmüller. Der bekennende Nationalsozialist und Verfechter der Rassen- und Erbbiologie leitete ab Februar 1938 die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Am 10. August 1939 nahm er an einer Besprechung zur Durchführung der „Euthanasieaktionen“ teil und ließ ab Oktober 1939 1119 Patient*innen aus Eglfing-Haar erfassen, von denen 25 im Januar 1940 die ersten Opfer der Aktion T4 wurden.20 Zwischen dem 18. Januar 1940 und dem 20. Juni 1941 wurden 2025 Menschen über die Anstalt Eglfing-Haar in die Tötungsanstalt Grafeneck und die Tötungsanstalt Hartheim überstellt und dort ermordet.21 Folgendes Zitat Pfannmüllers stammt aus dem Jahr 1939: 

“Als konfessionell ungebundener und überzeugter nationalsozialistischer Anstaltsleiter halte ich mich […] für verpflichtet, eine wirkliche Sparmaßnahme aufzuzeigen, die geeignet ist, die Lage der Anstalten wirtschaftlich günstig zu beeinflussen. Ich erachte es an dieser Stelle für angebracht, einmal offen und mit aller Deutlichkeit auf die Notwendigkeit hinzuweisen, daß wir Ärzte hinsichtlich ärztlicher Betreuung lebensunwerten Lebens auch die letzte Konsequenz im Sinne der Ausmerze ziehen. Es handelt sich darum, daß jene an sich wohl bedauernswerten Kranken, die aber nur ein Scheindasein eines Menschen leben, die für die soziale Eingliederung in die menschliche Gemeinschaft vollkommen unbrauchbar geworden sind, […] die sich selbst, ihren Angehörigen und ihrer Umgebung zur Qual und zur Last [geworden sind], verschärfter Ausmerze unterworfen werden müssen. […] Gerade diese Tage, in denen von unseren wertvollsten Männern die schwersten Opfer an Blut und Leben verlangt werden, lehren uns eindrucksvoll, daß es nicht möglich sein darf, aus wirtschaftlichen Gründen vermehrt die Anstalten mit lebenden Leichen für einen trotzdem immer noch unverhältnismäßig hohen Verpflegesatz zu belegen. Für mich ist die Vorstellung untragbar, daß beste, blühende Jugend an der Front ihr Leben lassen muß, damit verblichene Asoziale und unverantwortliche Antisoziale in den Anstalten ein gesichertes Dasein haben.“22
Mit dem Einmarsch der US-Armee am 2. Mai 1945 in Eglfing-Haar wurde Pfannmüller inhaftiert.23Erst vier Jahre später begannen vor dem Schwurgericht in München die Verhandlungen gegen Pfannmüller wegen seiner Beteiligung an den „Euthanasie“-Verbrechen. Letztendlich wurde er wegen Totschlag beziehungsweise Beihilfe zum Totschlag zu einer Gesamtstrafe von fünf Jahren Haft unter Anrechnung der Internierungs- und Untersuchungshaft verurteilt.24Ein Zeuge namens Ludwig Lehner, der die Umstände in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar anlässlich einer Führung 1939 mitbekam, sagte nach Kriegsende folgendes aus:

„In etwa 15–25 Kinderbettchen lagen ebenso viele Kinder von ungefähr 1–5 Jahren. Pfannmüller explizierte in dieser Station besonders eingehend seine Ansichten. Folgende zusammenfassende Aussprüche dürfte ich mir ziemlich genau gemerkt haben, da sie entweder aus Zynismus oder Tölpelhaftigkeit erstaunlich offen waren. Diese Geschöpfe (gemeint waren besagte Kinder) stellen für mich als Nationalsozialisten nur eine Belastung unseres Volkskörpers dar. Wir töten (er kann auch gesagt haben ‚wir machen die Sache‘) nicht durch Gift, Injektionen usw., da würde die Auslandspresse und gewisse Herren in der Schweiz (gemeint war wohl das Rote Kreuz) nur neues Hetzmaterial haben. Nein, unsere Methode ist viel einfacher und natürlicher, wie sie sehen. Bei diesen Worten zog er unter Beihilfe einer mit der Arbeit in dieser Station scheinbar ständig betrauten Pflegerin ein Kind aus dem Bettchen. Während er das Kind wie einen toten Hasen herumzeigte, konstatierte er mit Kennermiene und zynischem Grinsen so etwas wie: Bei diesem z. B. wird es noch 2 – 3 Tage dauern. Den Anblick des fetten, grinsenden Mannes, in der fleischigen Hand das wimmernde Gerippe, umgeben von den anderen verhungernden Kindern kann ich nimmer vergessen. Weiterhin erklärt der Mörder dann, dass nicht plötzlicher Nahrungsentzug angewandt werden würde, sondern allmähliche Verringerung der Rationen.“
Pfannmüller erwiderte: 

„Selbst wenn dieses Kind euthanatisch zu beurteilen gewesen ist, würde ich dieses Kind niemals vom Standpunkt des Nationalsozialismus aus in der Frage der Beurteilung gesehen haben, denn die „Euthanasie“ und auch die Dinge des Reichsausschusses haben, meines Erachtens, mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun, sondern sie sind, ebenso wie das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und das Ehegesundheitsgesetz, gesetzliche Maßnahmen, die unter dem nationalsozialistischen Regime geboren worden sind, deren Ursache aber auf Jahrhunderte schon vorher in der Denkungs- und Überlegungsart zurückgehen.”25
Pfannmüller bestritt bis zu seinem natürlichen Tod mit 75 Jahren im April 1961 in München seine Beteiligung an den über 3.000 Todesfällen im Rahmen der „Euthanasie“-Verbrechen in Eglfing-Haar.
 

Das Ausmaß der “Kindereuthanasie”


Es wird davon ausgegangen, dass Kinder und Jugendliche in nahezu allen nationalsozialistischen „Euthanasie“-Maßnahmen einbezogen wurden und mehr als 10.000 Minderjährige ermordet wurden.26 1939 wurde der sogenannte Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden (kurz: Reichsausschuss) in Berlin eingerichtet. Diese Amt war mit der Erfassung und Tötung von Neugeborenen und Kindern mit Missbildungen beauftragt. Hierfür wurden ab August 1939 Hebammen und Ärzte dazu verpflichtet missgestaltete Neugeborene dem Gesundheitsamt zu melden, das wiederum die Meldung, nachdem sie von den Amtsärzten überprüft worden war, an den Reichsausschuss in Berlin weiterleitete. Die drei Gutachter in Berlin, allesamt Kinderärzte und Klinikleiter, entschieden dann letztendlich über die Einweisung der betroffenen Kinder in eine der ca. 30 Kinderfachabteilungen im Reichsgebiet. Zudem erteilten die Gutachter nach eigener Einschätzung die sogenannte Behandlungsermächtigung, welche die Tötung der Kinder durch die Anstaltsärzte erlaubte. In aller Regel geschah dies durch die mehrfache und überdosierte Gabe von Luminal (Phenobarbital), einem Betäubungsmittel, und der systematischen Unterernährung, was im Verlauf zu einer Lungenentzündung und schlussendlich dem Tod der Kinder führte. Dieses sogenannte Luminal-Schemawurde von dem Arzt Paul Nitsche 1940 in der Heilanstalt Leipzig-Dösen entwickelt und unter der Assistenz der Oberärzte Georg Rennound Herbert Schulze erprobt.27

 
Gewichtsverlauf der Kinder in Eglfing-Haar | Credit: Staatsarchiv des Bezirk Oberbayern


  Da auch bereits vor 1939 in Anstalten untergebrachte Kinder sowie Kinder in Behinderteneinrichtungen der Kirche in die Zuständigkeit des Reichsausschusses fielen, jedoch nicht immer eine Meldung erfolge, ist nicht ganz genau nachvollziehbar, wie viele Betroffene ermordet wurden. Schätzungen zu Folge ist mit zwischen 3.000 und 5.000 ermordeten Kindern und Jugendlichen im Alter bis 14 Jahren zu rechnen.28 Im Gegensatz zu anderen gewaltsamen Maßnahmen der nationalsozialistischen Diktatur, wurde die „Kindereuthanasie“ von Beginn an im Geheimen gehalten. Eltern von betroffenen Kinder wurden getäuscht, die wahren Absichten der Ärzte hinter der Anpreisung von neuen Heilmethoden verschleiert. Die Reaktionen der Angehörigen wurden unter anderem von Julia Katzur in ihrer medizinischen Dissertation beschrieben.29 Es zeigte sich ein breites Spektrum an Haltungen gegenüber der Fachabteilung, allerdings schafften es nur sehr wenige Eltern ihre Kinder aus der Anstalt rauszuholen. Erschreckenderweise gibt es mehrere Berichte von Eltern, die sich sogar selbständig bei Parteistellen gemeldet hatten, mit dem Wunsch ihr Kind in eine Anstalt verlegen oder gar euthanatisch töten zu lassen. Selbst diesen Eltern waren die Klinikärzte jedoch nicht ehrlich gegenüber, man hielt weiterhin an den vorgetäuschten natürlichen Todesursachen fest. 

Die Aufarbeitung der schrecklichen Verbrechen in Eglfing-Haar wurde zwar direkt nach dem Krieg durch den bereits erwähnten Psychiater Gerhard Schmidt (1904 – 1991) begonnen, jedoch fand Schmidt keine Verleger für seine Schriften. Stattdessen riet man ihm sogar davor ab, diese zu veröffentlichen. 1946 wurde der kommissarisch einberufene Leiter der Klinik Schmidt durch Anton von Braunmühl ersetzt. Dieser hatte während der NS-Zeit unter Pfannmüller als Arzt in Eglfing-Haar gearbeitet. Unter anderem hatte er während dieser Zeit an der Insulinschocktherapie geforscht. Der Medizinhistoriker Gerrit Hohendorf vermutet, dass Braunmühl hoffte, in Eglfing-Haar seine Therapiemethoden weiterentwickeln zu können und fürchtete, durch die Aufarbeitung seines Vorgängers der „Euthanasie“-Verbrechen könne die Anstalt in Verruf geraten. Mit seiner Amtsübernahme beendete er jegliche Aufarbeitung.30 An die Opfer der „Euthanasie“ wurde in Haar erst ab 1990 erinnert.


Mahnmal auf dem Klinikgelände: “Zum Gedenken an die Opfer der Euthanasie während des NS Regimes - Uns allen zur Mahnung“ | Credtit: Creative Commons



 

Das Kinderspital während und nach dem Zweiten Weltkrieg


1939 übernahm Alfred Wiskott (1898 - 1978) die Leitung der Klinik. Der Kinderarzt war seit 1937 Mitglied der NSDAP und erfüllte somit ein wichtiges politisches Kriterium für die Berufung auf eine Professur. Im Verlauf des zweiten Weltkrieges wurde trotz dem Einzug von Klinikpersonal in den Kriegsdienst der Klinikbetrieb im Dr. von Haunerschen Kinderspital unter Wiskott aufrechterhalten. Die Klinik erlitt wiederholt Schäden durch Bombenangriffe, im Juni 1944 so schwer, dass Patient*innen, Personal und Inventar nach Ohlstadt verlegt werden mussten.31 Von der „Kindereuthanasie“ versuchte sich Wiskott fernzuhalten. Ursprünglich sollte im Dr. von Haunerschen Kinderspital einer Tötungsstation eingerichtet werden, dies konnte Wiskott allerdings verhindern. Stattdessen wurde die Kinderfachabteilung in Eglfing-Haar eingerichtet. Obwohl Wiskott sich gegen die Einrichtung einer Tötungsstation im Dr. von Haunerschen Kinderspital eingesetzt hatte, hinderte ihn dies nicht daran seine Forschung an den betroffenen Kindern durchzuführen. In der Überweisung eines Kindes nach Eglfing-Haar bittet er beispielsweise „[…] im Falle eines letalen Ausgangs um Sektion und Befundbericht.“32 Ende 1945 wurde er als NSDAP-Mitglied auf Weisung der amerikanischen Militärregierung aus seinem Amt entfernt. Drei Jahre später wurde Wiskotts als entnazifiziert erklärt und konnte zum Jahresbeginn 1948 wieder die Leitung der Kinderklinik übernehmen, die er bis 1967 innehatte. Er widmete sich vor allem dem Wiederaufbau und der Modernisierung der Kinderklinik nach dem Zweiten Weltkrieg.33

Mit Anton von Braunmühl (1901 – 1957) als Anstaltsleiter in Eglfing-Haar ab 1946 lässt sich exemplarisch zeigen was in nahezu allen Heil- und Pflegeanstalten im Nachkriegsdeutschlands ablief: Verdrängung und Verleugnung des Geschehenen. 1955 schrieb er: „Es ist kein Zweifel und die Geschichte hat es gelehrt, daß alle verabscheuungswürdigen Ideen und Methoden, die unserer Psychiatrie vor noch nicht so langer Zeit so abträglich waren, von draußen kamen und draußen propagiert wurden.“34 Die deutsche Medizin sah sich für die Krankenmorde nicht verantwortlich. Eine offizielle Stellungnahme der deutschen Psychiater*innen zu den Morden an den Psychiatriepatient*innen kam erst im November 2011. 

In der im Januar 1988 erschienen Publikation Schicksale jüdischer und "staatsfeindlicher" Ärztinnen und Ärzte nach 1933 in München von Renate Jäckle, Hans-Jörg Ebell und Irene Kappler werden die Lebensgeschichte jüdischer Ärzt*innen aus München ausführlich und eindrücklich vorgestellt. Das Buch entstand (so auch unser Rundgang) in ehrenamtlicher Arbeit, eine eigene Aufarbeitung von Seiten der Klinik gab es bisher nicht. 


Gedenkbuch jüdischer Ärzt*innen in München | Credit: Renate Jäckle 1988



Sterbehilfe in Deutschland


Die Debatte um Sterbehilfe ist in Deutschland hochaktuell und wird durch die historische Belastung der „Euthanasie“-Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus auch heute noch geprägt. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2020 entschieden, dass das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verfassungswidrig sei, was zu einer intensiven gesellschaftlichen und politischen Diskussion geführt hat.35 Die ethischen Diskussionen um die Sterbehilfe und die Rechte von schwerkranken und sterbenden Patient*innen beinhalten oft Bezüge zur „Euthanasie“, um die Unterschiede zwischen einer menschenverachtenden Ideologie und einer menschenwürdigen medizinischen Praxis deutlich zu machen.

  Während die aktive Sterbehilfe in Deutschland verboten bleibt, sind passive Sterbehilfe (Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen) und indirekte Sterbehilfe (Schmerzlinderung mit möglicher lebensverkürzender Nebenwirkung) erlaubt. Seit der Entscheidung des Verfassungsgerichts ist der assistierte Suizid nicht mehr strafbar, befindet sich aber in einem unklaren rechtlichen Bereich, den der Gesetzgeber zum Stand des Sommers 2024 immer noch nicht klar festgelegt hat. In Deutschland können Sterbewillige sowohl Sterbehilfe-Vereine als auch Ärzt*innen aufsuchen. Das Angebot dieser Hilfe ist seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr strafbar. Es gibt eine anhaltende Diskussion über die Neuregelung der Sterbehilfe. Verschiedene Vorschläge reichen von einem grundsätzlichen Verbot der assistierten Suizidbeihilfe bis hin zu Modellen, die den Zugang zu tödlichen Medikamenten unter bestimmten Bedingungen ermöglichen würden. Es besteht ein Spannungsfeld zwischen dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben und dem Schutz des Lebens. Expert*innen betonen die Notwendigkeit einer umfassenden Suizidprävention und einer verbesserten palliativmedizinischen Versorgung.36 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Sterbehilfe in Deutschland weiterhin ein kontroverses Thema bleibt, bei dem eine klare gesetzliche Regelung aussteht. Die Debatte um eine angemessene Balance zwischen Selbstbestimmung und Lebensschutz dauert an, während in der Praxis eine rechtliche Grauzone besteht. Die historische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit kann dabei als mahnender Hintergrund in der aktuellen Debatte um Sterbehilfe in Deutschland dienen. Sie führt zu einer besonders sorgfältigen und vorsichtigen Herangehensweise an das Thema, bei der der Schutz des Lebens und die Würde des Menschen im Vordergrund stehen. Gleichzeitig erschwert diese historische Belastung teilweise eine offene Diskussion über Selbstbestimmung am Lebensende. Umso wichtiger erscheint daher insbesondere in der Medizin und medizinischen Ausbildung eine intensive und moderne Beschäftigung mit den „Euthanasie“-Verbrechen der NS-Diktatur – ein Ansatz, der erst 2023 eindrücklich von der Lancet Kommission zu Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust empfohlen wurde.37







  1. Vgl. Eduard Seidler: Jüdische Kinderärzte 1933–1945: Entrechtet – geflohen – ermordet, Karger Verlag, Basel 2007. 
  2. Rebecca Schwoch: Approbationsentzug für jüdische Ärzte: „Bestallung erloschen“. Deutsches Ärzteblatt, 105(39): A 2043–4, Berlin 2008.
  3. Vgl. Eduard Seidler, 2007.
  4. Andrea Autenrieth: Ärztinnen und Ärzte am Dr. von Haunerschen Kinderspital die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden, Dissertation, München 2012.
  5. Stefanie Harrecker: Degradierte Doktoren - Die Aberkennung der Doktorwürde an der Ludwig-Maximilians-Universität München während der Zeit des Nationalsozialismus. Utz Verlag. München, 2007.
  6. Helmut Moll: Heinrich Finkelstein – eine posthume Ehrung. In: Monatsschrift Kinderheilkunde, Jg. 1982, Nr. 130, S. 859 f.
  7. Aufruf des nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes. In: Völkischer Beobachter vom 23.03.1933.
  8. Gerhard Wagner: Rasse und Volksgesundheit. In: Der Parteitag Großdeutschland vom 5. bis 12. September 1938. Offizieller Bericht über den Verlauf des Reichsparteitages mit sämtlichen Kongreßreden, München 1938; 122–33.
  9. Sebastian Peters: Ausstellung: Erinnerungen Julius Spanier, Jüdisches Museum München, 2016.
  10. Hans Lamm: Jüdische Mediziner in München. In: Hans Lamm (Hrsg.): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München, Langen Müller Verlag, München 1982.
  11. Vgl. Hans Lamm, 1982. 
  12. Gerty Spies: In Memoriam Dr. Julius Spanier, München 1959.
  13. Barbara Danckwortt: Wissenschaft oder Pseudowissenschaft? Die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ am Reichsgesundheitsamt. In: Judith Hahn u. a. (Hrsg.): Medizin im Nationalsozialismus und das System der Konzentrationslager. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums. Frankfurt a. M. 2005, S. 140–164.
  14. Ebd. S. 75.
  15. Vgl. Gerhard Schmidt: Selektion in der Heil- und Pflegeanstalt 1939 – 1945, Springer, München 2012.
  16. Brief des Schwabinger Krankenhauses an den Vater v. 1.7.1942, ArchBezObb, Eglfing-Haar, Patientenakte 1622.
  17. ArchBezObb, Eglfing-Haar, Patientenakte 1622.
  18. Ebd.
  19. Julia Katzur: Münchner Kinder und Jugendliche als Opfer der Kindereuthanasie. In: Michael von Cranach, Annette Eberle, Gerrit Hohendorf, Sibylle von Tiedemann: Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, Wallstein Verlag, Göttingen 2018, S. 78 f.
  20. Hans-Ludwig Siemen: "Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten während des Nationalsozialismus", in: Michael von Cranach, Hans-Ludwig Siemen (Hrsg.): Psychiatrie im Nationalsozialismus – Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, München 1999, S. 432
  21. Michael von Cranach, Annette Eberle, Gerrit Hohendorf, Sibylle von Tiedemann: Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, Wallstein Verlag, Göttingen 2018, S. 100.
  22. Adelheid L. Rüter-Ehlermann u.a. (Bearb.): Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. 8, S. 285.
  23. Hans-Ludwig Siemen: Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten während des Nationalsozialismus, S. 463.
  24. Willi Dreßen: NS-»Euthanasie«-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland im Wandel der Zeit, in: Loewy, Hanno; Winter, Bettina (Hrsg.) (1996): NS-"Euthanasie" vor Gericht. Fritz Bauer und die Grenzen juristischer Bewältigung, Campus-Verlag, Frankfurt, New York 1996, S. 35-54. 
  25. Eidesstattliche Erklärung von Ludwig Lehner [Protokoll, S. 7393] und die darauffolgende Reaktion Pfannmüllers, zitiert bei: Alexander Mitscherlich; Fred Mielke: Medizin ohne Menschlichkeit: Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Heidelberg 2004, S. 249f.
  26. Udo Benzenhöfer: Kinderfachabteilungen und NS-Kindereuthanasie, Wetzlar 2000, S. 20 f.
  27. Boris Böhm und Hagen Markwardt: Hermann Paul Nitsche (1876–1948). Zur Biografie eines Reformpsychiaters und Hauptakteuers der NS-“Euthanasie“. In: Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hrsg.): Nationalsozialistische „Euthanasie“verbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen. Sandstein, Dresden 2004, S. 87.
  28. Vgl. Benzenhöfer: Kinderfachabteilungen, S. 20 f. 
  29. Vgl. Julia Katzur: Die "Kinderfachabteilung" in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar und die nationalsozialistische "Kindereuthanasie“" zwischen 1940-1945, Dissertation, München 2019. 
  30. Gerrit Hohendorf: The Representation of Nazi “Euthanasia” in German Psychiatry 1945 to 1998 – A Preliminary Survey. In: Korot – The Israel Journal of the History of Medicine and Science 19 (2007–2008), S. 29–48, S. 38 ff.
  31. Vgl. Susanne Stehr: Zur Geschichte der Münchner Kinderheilkunde (1818 bis 1980), insbesondere die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, Dissertation, München 1982.
  32. ArchBezObb, Eglfing-Haar, Patientenakte 1189.
  33. Vgl. Wolfgang Locher: 150 Jahre Dr. von Haunersches Kinderspital 1846–1996. Von der Mietwohnung zur Universitätsklinik. Mit Beiträgen von Beat Hadorn und Ingolf Joppich. Institut für Geschichte der Medizin, Cygnus, München 1996.
  34. Anton von Braunmühl: Draußen und Drinnen. Spiegel einer praktischen Psychiatrie. In: Bezirk Oberbayern (Hrsg.): Das Nervenkrankenhaus Haar bei München de Bezirks Oberbayern 1905-1955, München o J. [1956]. S. 20. 
  35. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 -, Rn. 1-343. 
  36. Deutscher Ethikrat: Zur Regelung der Suizidbeihilfe in einer offenen Gesellschaft: Deutscher Ethikrat empfiehlt gesetzliche Stärkung der Suizidprävention – Adhoc-Empfehlung vom 19.12.2017.
  37. Herwig Czech et al.: The Lancet Commission on medicine, Nazism, and the Holocaust: historical evidence, implications for today, teaching for tomorrow. In: The Lancet Volume 402, ISSUE 10415, P1867-1940, November 18, 2023.
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