(FEHLENDE) ERINNERUNGSKULTUR IN MÜNCHEN
Die ehemalige
Israelitische Privatklinik
Ehemalige Israelitische Privatklinik in der Hermann-Schmid-Straße 5-7 | Credit: Stadtarchiv München
Krankenheim Israelitische Privatklinik e. V.
Der 1906 gegründete Verein Krankenheim
Israelitische Privatklinik e. V. eröffnete 1911 in der
Hermann-Schmid-Straße 5 ein Krankenheim, in dem Menschen aller Konfessionen
medizinische Behandlung erhielten. Zudem wurde im ersten Obergeschoss ein
Schwesternheim eingerichtet. Im Jahr 1919 wurde das Gebäude um das Nachbarhaus
in der Hermann-Schmid-Straße 7 erweitert, ab 1925 kam eine Entbindungsstation
hinzu, bis das Krankenheim ab 1930 über 40 Betten verfügte. Bis 1933 waren in
etwa nur die Hälfte der Patient*innen jüdischen Glaubens. Doch mit der
zunehmenden Verfolgung jüdischer Menschen in Deutschland wurde der Zugang zu
Krankenversorgung für Juden*Jüdinnen schwerer und die Versorgung konzentrierte
sich auf immer weniger werdende jüdische Praxen. Damit stieg auch der Anteil an
jüdischen Patient*innen im Israelitischen Krankenheim. Ab 1936 schließlich
durften Juden*Jüdinnen nicht mehr in öffentlichen Krankenhäusern versorgt
wurden. Zuflucht und ärztliche Versorgung für jüdische Menschen boten nur mehr
das Israelitische Krankenheim in München und zwei weitere Krankenhäuser in
Fürth und Würzburg.1 Das
Heim wurde unter der Leitung von Dr. Julius Spanier auf Befehl von Heinrich
Himmler im Mai 1942 aufgelöst und Patient*innen, Pflegepersonal und Ärzt*innen
ab Juni 1942 in das KZ Theresienstadt verschleppt.
Zeitzeugenbericht vom Tag der Deportation | Credit: Memory Loops
Anschließend eignete sich die NS-Organisation Lebensborn e. V. die Räume ohne finanzielle Entschädigung an. Beide Gebäude wurden durch einen Bombenangriff der Alliierten 1944 zerstört.
Lediglich Julius Spanier und seine
Frau Zipora Spanier überlebten Theresienstadt und kehrten nach ihrer Befreiung
nach München zurück.
Sicht auf die Hermann-Schmid-Straße, hinten: Israelische Privatklinik
. | Credit: Stadtarchiv München
Fehlende Aufarbeitung
Eine Aufarbeitung der deutschen NS-Medizinverbrechen fand in den
ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kaum statt, es herrschte in
der Medizin - wie im Rest der deutschen Nachkriegsgesellschaft - Schweigen. Wie
wir in unserem Rundgang zeigen konnten, wurden viele der ehemaligen Direktoren
zur Zeit des NS-Regimes, die sich aktiv an Menschenrechtsverbrechen beteiligt
hatten, in den Nachkriegsjahren erneut in gleicher Position eingestellt und
prägten noch Jahre nach dem Krieg die Münchner Medizin. Wenn es zu
Gerichtsverfahren mit Anklage kam, dann wurden diese häufig eingestellt. In den
ärztlichen Standesorganisationen blieb die Auseinandersetzung mit den
NS-Verbrechen lange Zeit die Ausnahme. Führungspositionen wurden teilweise von
ehemaligen NSDAP-, SA- oder SS-Mitgliedern besetzt.2 Erst ab den 1970er Jahren setzte langsam ein Wandel ein. 1978 sprach der
damalige Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, erstmals von einer
"Schuld" der ärztlichen Organisationen, wenn auch in begrenztem
Umfang. Weitere Jahre später, in den 1980er Jahren, kam es zunehmend zu einer
historischen Aufarbeitung. Medizinische Fachgesellschaften begannen, ihre
NS-Vergangenheit und die Rolle belasteter Mitglieder zu untersuchen.3 Der Deutsche Ärztetag diskutierte ab 1996 die eigene Rolle während der NS-Zeit
und adressierte erstmals öffentlich das Leid der Opfer von
Zwangssterilisationen.
Seitdem ist in Deutschland viel recherchiert, dokumentiert und
aufgearbeitet worden. Einige Institute und Universitätskliniken in anderen
Städten bieten ausführliche Informationen über den historischen Kontext ihrer
Verstrickung mit dem Nationalsozialismus.4 Zudem fordern Expert*innen heutzutage, Wissen über die Medizinverbrechen
stärker in die ärztliche Ausbildung zu integrieren, um ethisches Handeln und
kritisches Bewusstsein zu fördern.5 Die Münchner Institute zeigen sich dagegen eher nachlässig, was ihre
historische Verantwortung betrifft, zumindest gemessen an der Bedeutung der
Stadt München für die NSDAP als Stadt der
Bewegung und die Münchner Medizin im Besonderen als Keimquelle
rassenhygienischer Forschung. Einzelne Aktionen, Veröffentlichung oder
Initiativen zeugen zwar von der (teils sogar zivilgesellschaftlichen)
Erinnerungskultur in München wie beispielsweise ein Buch aus dem Jahr 1988 über
die Geschichte der jüdischen Ärzt*innen, die in München ab 1933 verfolgt
wurden.6 Die Institute der Münchner Universität selbst bieten dabei derzeit kaum Angebote
oder einen öffentlichen Diskurs über ihre historische Verantwortung an.
Gedenktafel in der Hermann-Schmid-Straße 5 | Credit: Eigenaufnahme
Erinnern heißt Gedenken
Dabei sollte ein Aspekt dieser historischen Auseinandersetzung auch
immer ein Erinnern an die unschuldigen Opfer dieser grauenhaften Verbrechen
sein. Denn Erinnerungskultur bedeutet Gedenken. Sie benötigt jedoch eine
kontinuierliche und dem aktuellen Forschungsstand entsprechende Aufarbeitung
geschichtlicher Zusammenhänge. Daher stellt auch die Beschäftigung mit der
Rolle der Münchner Medizin und medizinischen Wissenschaft zur Zeit des
Nationalsozialismus einen wichtigen Teil der städtischen Erinnerungskultur dar.
Wie wir zeigen konnten, haben viele der heutigen medizinischen Institute und
Münchner Kliniken eine belastete Vergangenheit. Jedoch fehlen an diesen Orten Möglichkeiten
der Erinnerung. Von all den Orten, die wir auf unserem Rundgang besuchen, befindet
sich lediglich an der Stelle der Israelitischen Privatklinik ein Mahnmal, das 1993
von Horst Auer geschaffen wurde.7 Die
Gedenktafel in der ehemaligen Frauenklinik an der Maistraße ist seit dem Umzug des
Betriebs in die neue Portalklinik für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich.
Tafeln in den verschiedenen Instituten, an denen die Institutsgeschichte
dargestellt wird, bieten kaum bis wenig Information über die Zeit von 1933 bis
1945. Wir fordern daher, dass entsprechende Angebote geschaffen werden. Dieser digitale
Rundgang stellt ein Beitrag dazu dar.
Kritische Aufarbeitung - auch heute noch
Primo Levi (1919-1987)
„Es ist geschehen,
und folglich kann es wieder geschehen:
Darin liegt der Kern dessen, was
wir zu sagen haben.“
Primo Levi, 1986
Warum bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Medizingeschichte Münchens
zur Zeit des Nationalsozialismus? In Anlehnung an die jüngste Veröffentlichung
der Lancet Commission on medicine, Nazism, and the Holocaust: historical
evidence, implications for today, teaching for tomorrow Ende November 2023
umfassen die Argumente dafür eine Vielzahl von verschiedenen Ebenen.8 Zum einen prägt die Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Medizinverbrechen die Identitätsbildung von zukünftigen Mitarbeiter*innen im Gesundheitsweden. Insebesondere angehenden Ärzt*innen kann dadurch eine wichtiger Rahmen gegeben werden eigene ethische und moralische Normen herauszuarbeiten und zu festigen. Auch im Sinne einer machtkritischen Analyse der ärztlichen Rolle stellt der unbeschreibliche Machtmissbrauch der NS-Ärzte eine relevante Extreme dar und eine Beschäftigung damit ermöglicht zumindest ein besseres Verständnis über die gesellschaftlichen Verstrickungen von Medizin, Normierung und Kontrolle. Hierbei seien beispielsweise die Werke von Michael Foucault über die Psychiatrie und den klinischen Blick erwähnt.9
Neben der professionellen (und persönlichen) Identitätsentwicklung fördert eine aktive Erinnerungskultur in der Medizin auch die Weiterentwicklung medizinhistorischer Forschung. Auch wenn schon Vieles aufgearbeitet ist, so führen neue Fragen häufig zu neuen Erkenntnissen. Beispielsweise erfährt - auch im Kontext der dekolonialen Provinienzforschung - das Thema der Human Remains, das heißt der menschlichen Überreste, an biomedizinischen Instituten (etwa der Anatomie oder der Pathologie) zunehmend Aufmerksamkeit.10 Die Einrichtungen sollten aktiv die Opfer der nationalsozialistischen Medizinverbrechen identifizieren und ihrer gedenken und Forschungen initiieren, um ihre Verbindungen zu Menschenrechtsverletzungen besser zu verstehen. Das ist das Mindeste, was die Einrichtungen tun können.
Und zuletzt entspringt aus der teils sehr schwierigen und emotional fordernden Beschäftigung mit den Medizinverbrenchen der NS-Zeit dennoch Hoffnung auf eine diskriminierungsarme und bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung. Wie wir bereits aufgezeigt haben, sind die Folgen von strukturellem sowie individuellem Rassismus für viele Betroffene noch weiterhin trauriger Alltag - auch im Gesundheitswesen. Die Kenntnis der historischen Gegebenheiten von medizinischem Rassismus sowie die kritische Reflexion der Kontinuitäten sind wichtige Schritte Versorgungsunterschiede abzubauen.
- Andreas Heusler: Israelitische Privatklinik e.V., in: Winfried Nerdinger (Hg.): Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München, Salzburg 2006, S. 143.
-
Ralf
Forsbach: Abwehren, Verschweigen, Aufklären. Der Umgang mit den
NS-Medizinverbrechen seit 1945, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2013, abgerufen
unter: https://zeitgeschichte-online.de/themen/abwehren-verschweigen-aufklaren
- Saskia
Wilhelmy, Tagungsbericht: Medizintäter. Ärzte und Ärztinnen im Spiegel der
NS-Täterforschung, In: H-Soz-Kult, 18.09.2019, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127017>.
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Universitätsklinikum
Würzburg, aufgerufen unter: https://www.ukw.de/aktuelle-meldungen/detail/news/in-erinnerung-an-juedische-aerztinnen-und-aerzte/
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Richard Horton: Offline: Medicine and the
Holocaust-it's time to teach. Lancet (London, England) vol. 394,10193 (2019):
105. doi:10.1016/S0140-6736(19)31608-3
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Renate
Jäckle et al.: Schicksale jüdischer und "staatsfeindlicher" Ärztinnen
und Ärzte nach 1933 in München - Ergebnisse des Arbeitskreises:
"Faschismus in München - aufgezeigt am Schicksal der aus
"rassischen" und/oder politischen Gründen verfolgten Opfer in der
Münchner Ärzteschaft". München, 1988.
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Helga
Pfoertner: Mit der Geschichte leben. Bd. 2, Literareron, München 2003, S.
25–28.
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The Lancet: Preventing healers from becoming
killers. Lancet, (London, England) vol. 402,10415 (2023): 1805.
doi:10.1016/S0140-6736(23)02501-1
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Vgl. Michel
Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der
Vernunft. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 25. Edition. 1973. Oder: Michel
Foucault: Die Geburt der Klinik – eine Archäologie des ärztlichen Blicks.
Fischer Verlag. 11. Edition. 1988.
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Philipp
Osten: Pathologie und Attraktionen: Human remains in medizinischen Sammlungen. 2023
DOI: 10.1515/9783839468340-008.