Ausschnitt aus der Dokumentation
Ärzte ohne Gewissen - Menschenversuche im Dritten Reich | 1996 | Credit: Ernst Klee
Vor dem Haupteingang des Dr. von Haunerschen Kinderspitals,
der Kinderklinik der Ludwig-Maximilian-Universität München (LMU), rauschen
Autos auf der viel befahrenen Lindwurmstraße Richtung Sendling. Die Geräusche
der Automotoren sind laut. Außerhalb des Klinikgebäudes ist immer etwas los:
der Goetheplatz, an dem sich Goethe- und Lindwurmstraße zu eine großen Kreuzung
treffen, bietet einen Treffpunkt für die unterschiedlichsten Gestalten, der
McDonalds und das Kino am Eck scheint zu jeder Tageszeit besucht zu sein und im
Spätsommer jeden Jahres torkeln Besucher*innen des jährlichen Oktoberfests auf
der Theresienwiese zur U-Bahnstation oder ihren Hotelzimmern. Doch so laut auch
die Umgebung ist, innerhalb der Kinderklinik herrscht oft eine ruhige Stille.
Auf den Stationen hört man ab und zu Weinen oder das Alarmieren der Monitore.
Im Innenhof spielt ein Kind auf dem Spielplatz. Doch geht man durch die
meterhohen Gänge ist es ruhig – ein starker Kontrast zu dem regen Treiben auf
der anderen Seite der teils über 140 Jahre alten Mauern. Von außen ist die
Größe der Klinik kaum zu erahnen. Über die Jahrzehnte wurden immer wieder
Erweiterungs- und Neubauten notwendig, um den Anforderungen des Klinikbetriebs
gerecht zu werden. Mittlerweile sind die unterschiedlichen Gebäude daher durch
verwirrende Zwischenetagen und Treppenhäuser zusammen gepuzzelt. Die Klinik ist
ein Haus der Maximalversorgung. Auf höchstem medizinischen Niveau werden hier
Säuglinge, Kinder und Jugendliche zugleich, teils mit lebensbedrohlichen
Erkrankungen, behandelt – und das oft erfolgreich. Zeitgleich arbeiten
Forscher*innen an neuen Behandlungsmethoden oder gehen den Ursachen noch
unbekannter Erkrankungen nach.
Doch hinter dem Glanz der modernen Medizin und dem stetigen
Klinikalltag, fast schon versteckt, schlummert wie an so vielen Orten Münchens
eine grausame Geschichte. An einer Wand im ersten Stock hängen seit Neuem
einige Holztafeln, ist man in Eile verfehlt man sie. Sie sind den jüdischen
Ärzt*innen gewidmet, die während der nationalsozialistischen Diktatur am Dr.
von Haunerschen Kinderspital tätig waren, verfolgt, vertrieben und teils
ermordet wurden. Sie sind einer der wenigen Zeugnisse oder Erinnerungen an
diese Zeit in der Klinik. Auf der Website der Klinik werden die Jahre zwischen
1933 und 1945 in einem Nebensatz erwähnt. Eine Aufarbeitung der Geschichte, in
dessen Rahmen auch die genannten Tafeln entstand, fand kaum und wenn, dann sehr
spät statt. Doch gerade anhand der Kindermedizin lassen sich viele prägende
Elemente der Münchner Medizingeschichte zur Zeit des Nationalsozialismus
zeigen. Und insbesondere eine kritische Auseinandersetzung mit der
sozialdarwinistischen Ideologie der Nationalsozialisten erscheint vor dem
Hintergrund zunehmender rechter Strömungen im öffentlichen Diskurs von großer
Bedeutung. So nannte beispielsweise der Thüringer AFD-Chef Höcke im Sommer 2023
Inklusion von Kindern mit Behinderung an Schulen ein Hemmnis für die Leistungsfähigkeit
von Kindern ohne Behinderung. Wörtlich hieß es im MDR-Sommerinterview:
"Ideologieprojekte wie Inklusion" würden "unsere Schüler nicht
weiterbringen", "unsere Kinder nicht leistungsfähiger machen".1 Seine Aussagen stießen zwar auf große
öffentliche Kritik, Behindertenverbände zeigten sich schwer empört. Dennoch
wurde das Interview veröffentlicht, dennoch bleiben diese Gedanken sagbar. Wie
sich im Folgenden herausstellen wird, erinnern sie allzu sehr an die
Ausführungen Dr. Hermann Pfannmüllers, der ehemalige Leiter der
Kinderfachabteilung in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar.
Zusätzlich zu dieser an die nationalsozialistische
Kosten-Nutzen-Rhetorik erinnernde Äußerung, nehmen die Fälle rechter,
rassistischer und antisemitischer Gewalt seit Jahren zu. Der Jahresbericht für
2023 des Verbandes für Opferberatungsstellen zieht eine erschreckende Bilanz:
In elf von 16 Bundesländern wurden insgesamt 2.589 rechte, rassistisch und
antisemitisch motivierte Angriffe registriert. Der Anstieg bei antisemitisch
motivierten Angriffen um ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr ist alarmierend.
Täglich werden mindestens neun Menschen Opfer rechts, rassistisch oder
antisemitisch motivierter Gewalt. Die Beratungsstellen stellen außerdem erneut
eine gravierende Untererfassung rechter Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden
fest – auch bei schweren Gewalttaten.2 Und wie wir im Verlauf zeigen werden, macht diese Gewalt vor dem deutschen
Gesundheitswesen keinen Halt – im Gegenteil. Der Bericht des Nationalen
Diskriminierungs- und Rassismusmonitors aus dem Jahr 2023 legte den
Schwerpunkte auf Gesundheit und verdeutlichte, dass der Gesundheitssektor
allgemein ein häufiger Ort der Diskriminierung ist, am häufigsten jedoch
Bevölkerungsgruppen davon betroffen sind, die rassistisch markiert sind und
deren Zugehörigkeit zu Deutschland immer wieder Gegenstand der öffentlichen
Debatten ist: Schwarze, asiatische und muslimische Menschen.3 In einer großen Umfrage zeigte sich, dass knapp jede Dritte rassistisch
markierte Person diskriminierende Erfahrungen im Gesundheitswesen gemacht hat:
sei es nicht ernst genommen worden zu sein, medizinische Behandlung verweigert
oder verspätet erhalten zu haben. Zudem ist mittlerweile wissenschaftlich gut
beschrieben, dass rassistische Erfahrungen selbst ein Gesundheitsrisiko
insbesondere für psychische Erkrankungen darstellen. Dieser für viele in
Deutschland lebende Menschen alltägliche medizinische Rassismus hat System und
ist historisch gewachsen. Die Münchner Medizin spielte dabei eine nicht
unwichtige Rolle. Diese historische Kontinuität aufzuzeigen ist Gegenstand des
Rundgangs.
Eine historische Einordnung
Für ein besseres Verständnis der kommenden Orte benötigt es
unserer Meinung nach eine kurze historische Einordnung. Wir erheben bei unserem
medizinhistorischen Stadtrundgang jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Im Gegenteil – bei unseren Führung durch das Münchner Klinikviertel ermutigen
wir die Teilnehmenden zur aktiven Partizipation und sind immer wieder positiv
überrascht vom Wissen der Gruppe. Zugleich (so auch auf unserer digitalen
Version) setzen wir ein gewisses geschichtliches Grundwissen über das Ende der
Weimarer Republik, die Machtübernahme der Nationalsozialisten, den Kriegsverlauf
und den gesamteuropäischen Kontext zu dieser Zeit voraus. Halten wir
zusätzliche Hintergrundinformationen für notwendig, ergänzen wir diese oder
verweisen auf entsprechende externe Angebote.
NS-Dokumentationszentrum München am Max-Mannheimer-Platz 1 | Credit: Creative Commons
Das Gesundheitswesen im Nationalsozialismus
Zum Verständnis der Münchner Medizingeschichte zur Zeit der
NS-Diktatur sind einige zentrale Merkmale der Medizin im Nationalsozialismus
von Bedeutung. So war diese grundsätzliche von dem Bestreben der nationalsozialistischen Diktatur
geprägt, das Gesundheitssystem zur Umsetzung der eigenen Ideologie und Ziele zu
missbrauchen. Gesundheitsfürsorge war demnach nicht mehr auf das Individuum
konzentriert, sondern stand immer im Dienst der nationalsozialistischen
Ideologie. Das deutsche Gesundheitswesen und insbesondere die Ärzteschaft
spielte dabei keineswegs eine passive Rolle, sondern war bereits sehr früh an
der Umsetzung der nationalsozialistischen Agenda beteiligt. Der bereits um die
Jahrhundertwende entstandene pseudowissenschaftliche Rassismus, sowie die
medizinische Prägung der sogenannten Rassenhygiene dienten dabei sowohl als
Gedankenanregung für das nationalsozialistisches Programm, als auch im Laufe
der Machtergreifung als wissenschaftliche Legitimierung des brutalen Regimes.
Ärzte nutzen diese Nähe sowohl zur privaten Bereicherung und Karriereförderung
als auch zur Fortführung der bereits vor der NS-Diktatur bestehenden
menschenfeindlichen Forschung und Arbeit. Die medizinische Qualität litt dabei
zum Teil enorm an pseudowissenschaftlicher Praxis und politischer Propaganda.
Diese dunkle, systemische und individuelle Vergangenheit wurde nach der
Niederlage Deutschlands und dem Ende des Krieges zwar im Rahmen des Nürnberger
Ärzteprozesses detailliert aufgearbeitet. Dennoch entging eine Vielzahl von
Ärztinnen und Ärzten jeglicher Form der Verurteilung. Bis weit in die 1970er
Jahre fehlte dabei zudem eine kritische Reflexion der eigenen Medizingeschichte
innerhalb der Ärzt*innenschaft sowie eine aufrichtige und ausführliche
Entschädigung der Opfer. An folgendem Zitat eines Zeitzeugens aus der
ehemaligen Tötungsanstalt Hartheim wird die historische Rolle und Verwicklung
der Ärzteschafft in die NS-Verbrechen auf grausame Weise deutlich:
“Der ärztliche Leiter stand
formell an der Spitze der Hierarchie der Tötungsanstalt. In seine Kompetenz
fiel die Tötung der Opfer – der Gashahn musste von einem Arzt bedient werden -,
er bestimmte die offizielle Todesursache und war für die Führung der Krankenakten
zuständig. Auch die Bezeichnung bestimmter Opfer für eine Obduktion, um
spezifische Präparate zu erhalten, verbunden mit der Anordnung, diese Menschen
vor ihrer Ermordung zu fotografieren, oblag dem Arzt.”4
Gedenken der Opfer
Der Rundgang soll daher zwei
Ebenen umfassen. Wir wollen zum einen aus einer medizinisch-ärztlichen
Perspektive diese mangelnde kritische Reflexion über Faschismus und Rassismus
vorantreiben und Kontinuitäten aufzeigen und benennen. Vor allem die Rolle der
Münchner Institute zur Zeit des Nationalsozialismus und darüber hinaus soll
dabei im Fokus stehen. Zum anderen soll der Rundgang aber vor allem eine
Erinnerung an die Opfer der grausamen Verbrechen der NS-Medizin sein. Sowohl
die Vielzahl an jüdischen Ärzt*innen und Beschäftigten im Gesundheitsbereich,
die ihrer Approbation enthoben, verfolgt und ermordet wurden, als auch die
unzähligen Menschenleben, die durch Menschenversuche, Euthanasie und
systematischen Massenmord vernichtet wurden, sind der Fokus des Rundgangs.
Aktuell wird geschätzt, dass die Nationalsozialisten 17 Millionen Menschen
ermordetet.5 Diese Zahl umfasst verschiedene Opfergruppen: Etwa 6 Millionen Juden fielen dem
Holocaust zum Opfer. Dies ist die am besten dokumentierte und am häufigsten
zitierte Opferzahl. Ungefähr 5,7 Millionen sowjetische Zivilist*innen wurden
getötet. Etwa 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene starben in deutscher
Gefangenschaft, meist durch Verhungern. Schätzungsweise 1,8 Millionen
nicht-jüdische polnische Zivilist*innen wurden ermordet, sowie etwa 312.000
serbische Zivilist*innen. Ungefähr 250.000 Menschen mit Behinderungen wurden im
Rahmen der NS-"Euthanasie"-Programme getötet. Schätzungsweise 196.000
bis 220.000 Sinti*zze und Rom*nja und etwa 1.900 Zeug*innen
Jehovas wurden ermordet. Neuere Studien vermuten zudem, dass etwa 5.000 bis
15.000 homosexuelle Menschen in Konzentrationslagern ermordet wurden.6 Es ist
wichtig zu betonen, dass diese Zahlen auf den derzeit genauesten Schätzungen
beruhen. Die genaue Anzahl der Opfer lässt sich aufgrund fehlender
vollständiger Dokumentation jedoch nicht exakt bestimmen und ist anhaltend
Gegenstand historischer Forschungsarbeit.
Ein Appell an die Münchner
Medizin
Ein besonderer Aspekt der Münchner Medizin ist
dabei die im Bundesvergleich schlechte Aufarbeitungs- und Erinnerungskultur der
Institute selbst. So fehlt beispielsweise auf nahezu allen offiziellen
Internetseiten der Adressen unseres Rundgangs jegliche Erwähnung der
Institutsgeschichte zur Zeit des Nationalsozialismus. Stattdessen herrscht in
der Münchner Medizin eine Kultur der Traditionspflege, in der bekannte Namen
wie Pettenkofer oder Alzheimer der heutigen Wissenschaftlichkeit der
Einrichtung Rückendeckung geben sollen. Mit dieser Tradition wollen wir brechen
und eine aktive Erinnerungskultur propagieren. Der Rundgang vereint damit verschiedene Ebenen von wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Arbeit.
Wir verfolgen dadurch zwar unterschiedliche Ziele, die jedoch alle in einem Appell
münden, der mit den Worten des Holocaust-Überlebenden und in München sehr
bekannten Max Mannheimer (1920-2016) folgendermaßen lautet:
„Ihr seid nicht für das verantwortlich, was
geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“7
Max Mannheimer (1920-2016) | Credit:
dpa/Andreas Gebert/BR
Deutsches
Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM): Rassismus und seine
Symptome. Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors.
Berlin, 2023.
Vgl. Brigitte Kepplinger: Die Tötungsanstalt Hartheim 1940-1945.
Onlinepublikation, 2013.