NATIONALSOZIALISTISCHE BEVÖLKERUNGSPOLITIK


Frauenklinik an der

 Maistraße



Eingang der ehemaligen Frauenklinik an der Maistraße 11 | Credit: Eigenaufnahme



Nationalsozialistische Bevölkerungspolitik und die Rolle der Frau


Ein wesentliches Merkmal der rassenhygienischen Vorhaben des NS-Regimes war die gezielte staatliche Einflussnahme auf die Geburtenentwicklung im Deutschen Reich. Dies wurde als wesentliches Werkzeug in der sogenannten Säuberung des Volkskörpers verstanden. So entwickelte sich auf der einen Seite eine pronatalistische Bevölkerungspolitik, deren Ziel es war, die Anzahl der Geburten zu steigern.1 Dabei waren jedoch nur die Geburten von als rassenhygienisch wertvoll eingestufter Kinder vorgesehen – sprich weiße, blonde und blauäugige Kinder ohne körperliche oder geistige Beeinträchtigungen. Diese Forderung nach einer Steigerung der Geburtenrate war eng verknüpft mit dem nationalsozialistischen Frauenbild, in dem kurzgefasst die Frau auf die Rolle der Mutter reduziert wurde. 1933 verkündete der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945): „Den ersten, besten und ihr gemäßesten Platz hat die Frau in der Familie und die wunderbarste Aufgabe, die sie erfüllen kann, ist die, ihrem Volk Kinder zu schenken.“2 Mutterschaft galt somit nicht mehr als Privatsache, sondern wurde in den Dienst der rassenhygienischen Politik gestellt. Um die Geburtenrate zu erhöhen, griffen die Nationalsozialisten zu verschiedenen Maßnahmen. Bereits 1935 gründete beispielsweise der Reichsführer SS Heinrich Himmler (1900-1945) den Lebensborn e. V., der sich zur Aufgabe machte die Geburtenrate arischer Kinder zu erhöhen.3 Dies geschah zum Beispiel durch den Versuch nicht verheirateter (arischer) schwangerer Frauen von einem Schwangerschaftsabbruch abzuhalten. Der Abbruch war bereits seit der Weimarer Republik im §218 des Strafgesetzbuchs (StGB) geregelt, ab 1933 erweiterten die Nationalsozialisten das Gesetz um §219 StGB und §220 StGB, die das öffentliche Anbieten und Aufklären von Schwangerschaftsabbrüchen unter Strafe stellten. Bis heute bleibt der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland strafrechtliche verboten, nur unter gewissen Ausnahmen ist dieser möglich.4 Im Juni 2022 hat der Deutsche Bundestag für die ersatzlose Streichung des §219 StGB abgestimmt. 

Darüber hinaus war der Lebensborn e. V. maßgeblich an der Verschleppung ausgewählter Kinder aus den von NS-Deutschland besetzten Gebieten beteiligt. Die Kinder wurden in sogenannten Lebensborn-Heimen untergebracht mit dem Ziel im Verlauf von deutschen Familien adoptiert zu werden. Der Befehl dazu ging im Februar 1942 von Himmler aus. Es wurde im Rahmen der deutschen Feldzüge gezielt nach arischen Kindern gesucht. Entsprachen diese nach ausführlicher medizinischer bzw. rassenhygienischer Untersuchung in den Heimen nicht den notwendigen Kriterien, so wurden diese Kinder in Vernichtungslager überstellt und ermordet – so wurden beispielsweise 82 Kinder zur Tötung in das Vernichtungslager Sobibor im heutigen Polen gebracht.5 Im Verlauf der NS-Diktatur wurden mindestens 20 solcher Lebensborn-Heime etabliert, häufig auf den Anwesen und in den Gebäuden enteigneter Juden*Jüdinnen oder anderer Verfolgter. In München diente zum Beispiel die (verlassene) Villa der Familie Mann in der Poschingerstraße kurzweilig als Zentrale des Lebensborn e. V., ab der Räumung des Israelitischen Schwestern- und Krankenheim im Jahr 1942 wurden diese Räume ebenfalls von dem Verein missbraucht. Die Heime dienten auch als anonymer Entbindungsort, sodass schwangere Frauen hier unter bestimmten Bedingungen Unterstützung erhielten. Bei ledigen Müttern übernahm der Verein sogar die Vormundschaft über das neugeborene Kind. Öffentlich inszenierte der Verein die Heime als Anlaufstelle für Mütter in Not, aus den Aufnahmebedingungen (beispielsweise das Vorlegen eines Ariernachweises) lässt sich jedoch auf die bevölkerungspolitische und rassenhygienische Absicht schließen.6

Weitaus engagierter Betrieben die Nationalsozialisten allerdings eine sogenannte antinatalistische Bevölkerungspolitik mit dem Ziel der konkreten Verhinderung der Fortpflanzung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Auf Basis der rassenhygienischen Überlegungen und Theorien (die wir bereits ausführlich dargestellt haben), gingen die Maßnahmen gegen die Weitervererbung als schlecht eingestufte Erbanlagen vor. Die Medizin und dabei insbesondere die Frauenheilkunde tat sich dabei früh in der Unterstützung der Zwangssterilisation verfolgter Personen hervor. Von diesen Zwangsmaßnahmen sind schätzungsweise über 400.000 Personen betroffen, mindestens 5.000 Menschen starben während des Eingriffs oder an den Folgen.7 Sowohl die endgültige Unfruchtbarmachung als auch der aufgezwungene Schwangerschaftsabbruch waren gängige und auch rechtlich implementierte Methoden zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik. Hauptbetroffen waren dabei vor allem Menschen, die auch im weiteren Verlauf der NS-Diktatur nicht in Arbeits- oder gar Vernichtungslagern untergebracht waren, sondern weiterhin Teilhabe am öffentlichen Leben hatten. Für die logistische Organisation, das Erheben, Erfassen und die Dokumentation potenzieller Personen spielte das Gesundheitswesen eine zentrale Rolle. Darüber hinaus wurden die Sterilisationsmaßnahmen von einer ausführlichen Propaganda begleitet mit dem Ziel die Denunziation in Frage kommender Menschen zu fördern. Auch die ehemalige Frauenklinik der Maistraße beteiligte sich aktiv an der gewaltsamen Durchführung dieser Eingriffe. Mehr noch stach die Münchner Klinik als Standort unter der Leitung von Heinrich Eymer (1883-1965) besonders hervor, da dieser prägend für die chirurgische Umsetzung der Sterilisationseingriffe war.


Blick auf die neue Portalklinik in der Nußbaumstraße | Credit: Eigenaufnahme

Zwangssterilisationen in der Frauenklinik


Nachdem 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen worden war, wurden bis 1945 in der Frauenklinik in der Maistraße 1.345 Frauen im Rahmen des Gesetztes zwangssterilisiert. Zusätzlich wurden im Rahmen von Gutachtenfällen weitere Eingriffe sowie mindestens 58 Zwangsabtreibungen durchgeführt.8 Als erbkrank wurden folgende Symptome eingestuft: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem Irrsein, erbliche Fallsucht (heutzutage a. e. Epilepsie), Veitstanz (Chorea Huntington), erbliche Blindheit oder Taubheit. Die Eingriffe wurden allesamt unter der Leitung des Gynäkologen Heinrich Eymer (1883-1965) durchgeführt, der diese ab 1934 innehatte. Die meisten Sterilisationen fanden in den Jahren 1935 (294 Sterilisationen), 1936 (321 Sterilisationen) und 1937 (insgesamt 288 Sterilisationen) statt, zeitweise waren ein Viertel aller operativen Eingriffe an der Klinik Sterilisationseingriffe.9 Das Durchschnittsalter der betroffenen Frauen betrug 19 Jahre, die jüngste Patientin war gerade einmal 12 Jahre alt. 



Einleitende Worte zur Frauenklinik an der Maistraße | Credit: Memory Loops


Im Vergleich zu der Sterilisation des Mannes, sind die operativen Eingriffe bei der Frau deutlich komplexer, da in aller Regel ein Eingriff im Bauchraum notwendig und somit auch das Komplikationsrisiko höher ist. Die von Eymer empfohlene und an der Frauenklinik am häufigsten durchgeführte operative Methode, war die Operation nach Menge, bei der über die Leistenkanäle operiert wurden. Bei intraoperativen Komplikationen musste auf eine offene Bauchoperation (mittels Laparotomie) konvertiert werden. Der durchschnittliche Klinikaufenthalt lag bei diesen Operationen bei ca. 3 Wochen und war mit den verschiedensten Komplikationen belastet, gelegentlich auch mit Todesfolge. Wurde direkt eine Laparotomie durchgeführt, so war dies in einem Drittel mit einem gleichzeitigen Schwangerschaftsabbruch verbunden, der bis in die 28. Schwangerschaftswoche erfolgte. Nicht erfasst blieben die Strahlensterilisationen (mittels Radiumeinlage oder direkter Röntgenbestrahlung), da keine Eintragungen hierzu vorhanden sind. Besondere Bedeutung kommt Eymer und seinen wissenschaftlichen Assistenten bei, da sie maßgeblich an der Weiterentwicklung und Verbreitung der Operationsmethode nach Menge beteiligt waren. Es wurden mehrfache wissenschaftliche Arbeiten und Dissertationen zu der Optimierung des Eingriffs veröffentlicht. Die Methoden der Sterilisation durch Bestrahlung erprobte Eymer zudem gemeinsam mit dem Psychiater und Mitverfasser des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Erst Rüdin (1874-1952) an Patientinnen.10

Corinna Horban ermöglichte mit ihrer Dissertation einen zuvor fehlenden Einblick in die Folgen und Lebensrealitäten betroffener Frauen. Horban führte im Rahmen ihrer Forschung, aus der auch ein Großteil der angegebenen Daten stammen, mit 22 Frauen Gespräche, die zwischen 1934 und 1939 in der Frauenklinik an der Maistraße zwangssterilisiert wurden. Im Folgenden sind Eindrücke und Auszüge dieser Gespräche als Text und Hörbeitrag dargestellt. 

  
Betroffenenberichte




Bericht einer betroffenen Frau | Credit: Memory Loops


Frau G. H. (S. 75)Frau G. H. sei als 16jährige zur Sterilisation in die Klinik gebracht worden. Es habe wohl von ihrer Seite und seitens der Familie Einspruch gegen den Sterilisationsbeschluß gegeben, doch habe sich schließlich ohnmächtig dem Druck der Nationalsozialisten gebeugt. In der Klinik sei sie von den Schwestern brutal und einschüchternd bloßgestellt worden: “Du hast ja Staub im Bauchnabel!” und “Wie siehst Du denn aus, Du bist ja nicht einmal gewaschen.” Diese Sätze hätten sich ihr Leben lang eingeprägt. Von den Ärzten sei sie herablassend und kalt ohne spezielles Gespräch behandelt worden. Eine Aufklärung von Seiten der Ärzte über die Sterilisation habe nicht stattgefunden. Die Operation habe unmittelbar nach der ersten Monatsblutung stattgefunden. Auf der linken Seite habe sie eine hässliche Narbe davongetragen. 



Bericht einer betroffenen Frau | Credit: Memory Loops


Frau O. P. (S. 79)1935 wurde bei Frau O. P. bei einem Arztbesuch festgestellt, dass sie im sechsten Monat schwanger wäre. Sie war damals 24 Jahre alt. Diese Mitteilung habe sie damals sehr erschreckt, sie sei nicht aufgeklärt gewesen. In ihrer Verzweiflung habe sie von der Eisenbahnbrücke in Großhesselhohe springen wollen. Sie sei dort gestanden und habe schon einen Koffer hinuntergeworfen. Da sei es gewesen, “als ob sie ihren Namen gehört hätte”. Daraufhin sei sie nicht gesprungen. Dieser Selbstmordversuch habe zu einem vorübergehenden Aufenthalt in der Nervenheilanstalt Eglfing-Haar geführt. Am 14.01.1936 sie ihr Sohn geboren worden. Er sei bei ihren Eltern aufgewachsen. Am 17.06.1936 wurde Frau O. P. unter der Diagnose "Schizophrenie" sterilisiert. Sie habe nie mehr Selbstmordgedanken gehabt, auch keine Stimmen mehr gehört. Aber ihre Eltern hätten die Sterilisation befürwortet, dabei "hätte es das gar nicht gebraucht!. Jedoch habe sie “da nichts machen können”. 

Frau O. P. sei die älteste von fünf Geschwistern gewesen. Alle Geschwister hätten später Kinder gehabt. In der Familie sei “alles immer ehrlich” gewesen, über ihre Sterilisation hätten sie jedoch nie gesprochen. 1939 habe sie einen Freund gehabt. Er sei seit Stalingrad vermisst worden. Seither sei sie allein geblieben. Dies belaste sie noch immer. Sie habe immer gearbeitet. In den ersten drei Jahren sei sie “Mädchen für alles” in einem Haushalt gewesen. Dann sei sie Schwesternhelferin in erin orthopädischen Klinik geworden, später in einem Münchner Altenheim. In diesem Altenheim lebe sie jetzt selbst. 




Bericht einer betroffenen Frau | Credit: Memory Loops


Frau L. M. (S. 84)Zur Zeit des Eingriffs habe die Mutter von L. M. nicht mehr gelebt. Sie sei von ihrem Stiefvater oft geschlagen worden, daher sei sie mit 15 von zuhause weggegangen und habe sich auf eigene Füße gestellt. Sie habe damals als Hausmädchen in München gearbeitet. Mit 24 Jahren habe sie von einer kurzen Begegnung im Englischen Garten ein uneheliches Kind erwartet. Frau L. M. erklärte, sie sei nicht aufgeklärt gewesen, und habe ja nicht gewusst, dass man “vom Küssen gleich ein Kind bekommt”. Der Vater des Kindes habe nichts erfahren. Sie habe sehr unter der Schande eines unehelichen Kindes gelitten, es aber behalten wollen. Eine Tante habe sie sich damals verpflichtet gesehen, ggf. finanziell für sie und das Kind aufkommen zu müssen und daher einen Schwangerschaftsabbruch und die Sterilisation befürwortet. 

Frau L. M. schilderte im fünften Schwangerschaftsmonat einen Nervenzusammenbruch erlitten zu haben, den sie auf ihre verzweifelte Lage zurückführte. Sie sei damals zuerst in die Psychiatrie des Schwabinger Krankenhauses und von dort in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar gebracht worden. Nach kurzem Aufenthalt sei das Sterilisationsverfahren gegen sie mit der Diagnose Schizophrenie von der Anstalt aus eingeleitet worden. Frau L. M. weinte sehr, während sie das erzählte: “Die haben mich kaputt gemacht.” Sie habe sich nicht wehren können. Immer wieder betonte sie, wie gemein in den Kliniken mit ihr umgegangen worden sei. Sie hätte so gerne Kinder gehabt. Geschlechtsverkehr habe ihr nach der Sterilisation zeitlebens Schmerzen bereitet. Kurze Zeit nach ihrer Sterilisation habe sie sieben Jahre lang einen Freund gehabt, mit dem sie geplant habe, später einmal Kinder zu adoptieren. Er sei im Zweiten Weltkrieg gefallen. In der Folgezeit habe sie sich ganz auf ihre berufliche Selbstständigkeit gestützt und 1941 eine eigene Wäscherei mit Heißmangel gegründet. Bis zum Rentenalter habe sie gearbeitet, zuletzt in einer Klinikwäscherei. Nach dem Krieg habe sie einen geflohenen ukrainischen Schreiner geheiratet. Von ihrer Sterilisation habe sie niemandem außer ihrem Mann erzählt. Sie fürchte sehr die Vorurteile und das Gerede der Leute. Kinder zu adoptieren, sei für ihn nicht in Frage gekommen, außerdem wäre die wirtschaftliche Lage nach dem Krieg zu schlecht gewesen. Heute versorge sie ihren Mann, der seit zehn Jahren auf Krücken gehe und jetzt bettlägrig sei.




Bericht einer betroffenen Frau | Credit: Memory Loops



Der Täter Heinrich Eymer 

Eymer selbst war bekennender Nationalsozialist.11 1934 trat er der SS bei, seit 1937 war er NSDAP-Mitglied. Zudem war er Mitglied im Kampfbund für deutsche Kultur, dem NS-Ärztebund, dem Nationalsozialistischen Lehrerbund, ab 1934 Mitglied im Reichsluftschutzbundes und ab 1939 in NS-Dozentenbund. Seine medizinische Ausbildung absolvierte der gebürtiger Frankfurter in Karlsruhe und Heidelberg, bis er 1934 als Nachfolger Albert Döderleins (1860-1941) die Leitung der Frauenklinik an der Maistraße übernahm. Eymer setzte zum einen Döderleins Forschung an der Strahlentherapie von Gebärmutterhalskrebs fort, trat aber auch in dessen Fußstapfen bezüglich der Sterilisation von Frauen. Döderlein hatte nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in einem ersten Kommentar den Beitrag Die Unfruchtbarmachung der Frau verfasst. Eine Überarbeitung des Beitrags wurde in einem zweiten Gesetzeskommentar im Verlauf von Eymer veröffentlicht, in dem er als Alternative zu einem operativen Eingriff die Röntgenbestrahlung als Mittel zur Sterilisation empfahl.12 In aller Regel erfolgten jedoch ab 1934 die operative Methoden, wie sie oben beschrieben wurde.

Nachdem Eymer im November 1945 durch die amerikanische Militärregierung seines Amtes enthoben worden war, folgte erst eine Einstufung als „Minderbelasteter“, später als „Mitläufer“ durch die Berufungskammer. Dies war die Voraussetzung für eine Rückübertragung des Lehrstuhls und der Klinikleitung im Jahr 1948. Der Kardinal Michael Faulhaber hatte sich unter anderem bei der amerikanischen Militärregierung für Eymer eingesetzt.13 Eymer leitete die Frauenklinik noch bis Oktober 1954. Von 1951 bis 1952 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie (DGGG) und organisierte deren Kongress 1952 in München. Die Gesellschaft ernannte ihn später zum Ehrenmitglied. Die Bundesrepublik Deutschland ehrte ihn 1953 mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuz. Er verstarb 1965 im Alter von 82 Jahren in München. Die DGGG führt Heinrich Eymer weiterhin als Ehrenmitglied, distanziert sich aber aufgrund „ihrer Taten in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur“ von dem Anatom Hermann Stieve (1886-1952) und dem KZ-Arzt in Ausschwitz Hans Hinselmann (1884-1959).14


Büsten der ehemaligen Direktoren der Frauenklinik - in der Mitte: Herinrich Eymer | Credit: Eigenaufnahme




„Späte Entschuldigung”

Eine erste öffentliche Anerkennung und Entschuldigung der Betroffenen durch die Medizin erfolgte auf dem 50. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) am 25. August 1994 in der Aula der Ludwig-Maximilian-Universität - 60 Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Anwesend bei dem Kongress waren auch ehemalige Patientinnen und Opfer dieser Zeit. Diese „späte Entschuldigung“ reihte sich ein in eine historische Aufarbeitung, die erst zur Jahrhundertwende durch beispielsweise die Frauenärzte Manfred Stauber und Günter Kindermann begonnen wurde. Einige Zeit später, im Jahr 2012 hatte die DGGG ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Gesellschaft zur Zeit des Nationalsozialismus initiiert, dessen Ergebnisse 2016 in einer Fachzeitschrift der DGGG mit dem Titel Ausführer und Vollstrecker des Gesetzeswillens – die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie im Nationalsozialismus veröffentlicht wurden.15

Auf staatlicher Ebene wurde erst ab dem Jahr 1980 eine erste Möglichkeit zur Entschädigung von betroffenen Frauen geschaffen. Nach Vorlage des Erbgesundheitsgerichtsbeschlusses oder eines fachärztlichen Gutachtens mit dem Nachwies der Sterilisation konnte eine Einmalzahlung in Höhe von 5.000 DM beantragt werden. Die ärztliche Begutachtung wurde mitunter von ehemaligen NS-Ärzten durchgeführt, da diese (wie wir im Verlauf des Rundgangs mehrfach gezeigt haben) in der Nachkriegszeig häufig und rasch rehabilitiert wurden. Außerdem musste vor der Auszahlung der Einmalzahlung eine Vereinbarung zur Abgeltung aller Ansprüche aus der Zwangssterilisation unterschrieben werden. Ab dem Jahr 1988 wurden zusätzlich durch das Inkrafttreten der Härterichtlinien im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG-HR) die Beantragung von monatlichen Beihilfezahlungen möglich, bei dem Nachweis von nachhaltiger Gesundheitsschaden infolge der Zwangssterilisation.16

Im ersten Stockwerk des Klinikgebäudes befanden sich Ehrenbüsten der ehemaligen Klinikdirektoren, darunter auch von Heinrich Eymer. 2000 fand eine Umwidmung dieser sogenannten Ehrenhalle statt. Aus den Ehrenbüsten wurden Mahnmalbüsten. Zudem wurde eine Steintafel als Gedenken aufgehängt. Kritiker*innen hinterfragen dieses Vorgehen, da zum einen die Büsten weiterhin vorhanden sind und diese zum anderen auf die Gedenktafel blicken. Als die Klinik noch in Betrieb war, wurden die Büsten im unregelmäßigen Abständen umgedreht, sodass sie nicht mehr auf die Steintafel herabblicken konnten. Die Beibehaltung der Büsten wird mit dem Argument vertreten, dass sie zukünftigen Besucher*innen eine Anregung für Diskussionen bieten sollen. Seit dem Neubau der Portalklinik und die vollständige Verlagerung der Frauenheilkunde und Geburtshilfe der LMU München im Jahr 2022 werden die Büsten sowie die Gedenktafel kaum noch von neuen Besucher*innen gesehen. Eine Verlegung oder eine weiteres Installation zum Gedenken und Erinnern gibt es in der neuen Klinik für Frauenheilkunde bis heute nicht. 


Gedenktafel gegenüber der Büsten | Credti: Eigenaufnahme


Zwangssterilisation heute  


Und das, obwohl das Thema der Zwangssterilisation weiterhin hochaktuell ist. So werden derzeit in 13 Ländern der Europäischen Union Zwangssterilisationen unter bestimmten Voraussetzungen durchgeführt. Dazu gehören neben den deutschen Nachbarländern Dänemark und Tschechien auch Portugal, Malta, Kroatien, Finnland, Bulgarien, Zypern, Estland, Ungarn, Litauen, Lettland und die Slowakei.17 Das steht in einem klaren Widerspruch zur 2011 veröffentlichten Istanbul-Konvention, die eine Reihe von Maßnahmen zur Prävention von frauenspezifischer Gewalt vorsieht. Betroffen sind dabei Frauen, die eine körperliche oder geistige Behinderung und einen gesetzlichen Vormund haben. Das genaue Ausmaß ist unklar, da es dazu kaum statistische Erhebungen gibt. Für Spanien ist bekannt, dass zwischen den Jahren 2006 und 2016 über 1.000 Frauen zwangssterilisiert wurden. Diese Praxis wurde 2020 in Spanien verboten.18  

In Deutschland sind die juristischen Voraussetzungen zwar sehr streng. So sind sowohl eine Genehmigung durch ein Betreuungsgericht und die konkrete Möglichkeit einer Schwangerschaft notwendig. Zuletzt muss der natürliche Wille der betroffenen Frau in jedem Fall respektiert werden. Doch tatsächlich erfolgt aber nur ein kleiner Teil der Sterilisationen behinderter Frauen auf dieser rechtlichen Grundlage. Die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifischer Gewalt am Deutschen Institut für Menschenrechte zeigt beispielsweise auf, dass Frauen mit körperliche oder geistiger Behinderung acht Mal so häufig sterilisiert werden, wie nicht behinderte Frauen.19 Dies sei insbesondere als Folge beziehungsweise im Kontext eines teils sehr starken individuellen emotionalen Drucks zu werten, der auf behinderten Frauen lastet. In dem Bericht werden klare Forderungen gestellt, um sicherzustellen, dass keine Sterilisation ohne freie und informierte Zustimmung erfolgt. Unabdingbar seien dafür die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen mit Behinderung durch barrierefreie Aufklärung für eine selbstbestimmte Familienplanung und die Bereitstellung von Unterstützungsangeboten. 





  1. Vgl. Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus – Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. MV-Wissenschat. Münster, 2010.
  2. Annette Kuhn: Die Chronik der Frauen, Dortmund 1992, S. 477.
  3. Isabel Heinemann: Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Göttingen 2003, S. 102/BA NS 19/329.
  4. Vgl. Dirk von Behren: Kurze Geschichte des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 2019. 
  5. Dorothy Macardle: Children of Europe. Victor Gollancz, London 1949, S. 235f.
  6. Vgl. Georg Lilienthal: Der „Lebensborn e. V.“ Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik. Fischer-TB. Frankfurt 2003. 
  7. Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus – Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. MV-Wissenschat. Münster, 2010. S. 4. 
  8. Corinna Horban: Gynäkologie und Nationalsozialismus: Die zwangssterilisierten ehemaligen Patientinnen der I. Universitätsfrauenklinik heute – eine späte Entschuldigung. Hebert Utz Verlag. München, 2018. S. 41-49. 
  9. Ebd.
  10. Vgl. Matthias Weber: Ernst Rüdin – eine kritische Biografie. Springer Verlag. München, 2011. 
  11. Pavla Albrecht: Prof. Dr. Heinrich Eymer - eine ärztliche Karriere zwischen Ehrgeiz, Eugenik und Nationalsozialismus, in: Marita Krauss: Rechte Karrieren in München. Von der Weimarer Zeit bis in die Nachkriegsjahre, München 2010, S. 297-310.
  12. Die Eingriffe zur Unfruchtbarmachung der Frau. In: Gesetz zur Verhütungen erbkranken Nachwuchses nebst Verordnung vom 5. Dezember 1933 über die Ausführung des Gesetzes, Auszug aus dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933. 2. Auflage. J. F. Lehmanns Verlag, München 1936.
  13. Moritz Fischer: Faulhaber und die Entnazifizierung. In: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern. Band 49, 2019, Heft 3, S. 22–23
  14. https://www.dggg.de/die-dggg/geschichte/ehrenmitglieder, aufgerufen am 14.06.2024. 
  15. Vgl. Fritz Dross und Wolfang Frobenius et al.: Ausführer und Vollstrecker des Gesetzeswillens – die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie im Nationalsozialismus. In: Geburtshilfe und Frauenheilkunde. 76. S1-S158. 2016.
  16. Bundesministerium der Finanzen, Referat L B3: Wiedergutmachung – Regelungen zur Entschädigung von NS-Unrecht. Berlin, 2023. 
  17. Torben Heine und Laura Kress: Zwangssterilisation: EU-Parlament will Verbot, ZDF heute, 2023. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/eu-verbot-zwangssterilisation-100.html, aufgerufen am 14.06.2024. 
  18. Vgl. Marine Uldry: Forced sterilisation of persons with disabilitis in the EU – EDF Report. Brüssel, 2022.
  19. Deutsches Institut für Menschenrechte (Hsg.): Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt – Bericht über die Datenlage zu geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt in Deutschland, Berlin 2023.





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